Zwischen-den-Jahren-Interviews VI: Antonia Kühn – "Aufblasbare Eltern"
Liebe Antonia, erst einmal vielen Dank, dass du dir die Zeit für uns nimmst. Be
vor wir uns in dein neues Werk vertiefen, würde ich gerne ein bisschen mehr über
dich und deine Comiclaufbahn erfahren. Wie kam der Comic in dein Leben, welche Rolle spielt der Comic heute in deinem Leben?
Antonia Kühn: Da ich in der DDR aufgewachsen bin, hatte ich in meiner Kindheit keinen unbegrenzten Zugang zu Comics. Es gab ein Kind, den Sohn einer Freundin meiner Mutter, die wir hin und wieder besuchten, das mir bei jedem Besuch ein "Lustiges Taschenbuch" mitgab. Das habe ich dann immer schon direkt auf der Autofahrt ausgelesen und zu Hause angekommen, saß ich wieder auf dem Trockenen. Also Interesse war da schon vorhanden, aber nur wenig Material. Dafür umgab mich die wunderbare Welt tschechischer und polnischer Trick- und Puppenfilme, wie "Spejbl und Hurvínek", "Pat und Mat" oder "Lolek und Bolek". Sehr aufwendige, liebevolle und detailreiche Animationen. Das alles habe ich auf einem Schwarz-Weiß-Fernseher geschaut. Diese Ästhetik hat mich sehr geprägt. Von daher habe ich mich auch immer schon für Animationen und Trickfilme interessiert. Die sind ja nicht ganz so weit vom Comic entfernt. Heute verdiene ich mein Geld mit Erklärfilmen, kleinen Animationen und schaue noch immer alle möglichen Trickfilme und lese leidenschaftlich gern Comics.
2018 hattest du mit "Lichtung" bei Reprodukt dein Debüt hingelegt, bei dem ebenfalls eine Familie im Fokus lag. "Lichtung" handelt von einer Familie, die durch den Tod der Mutter aus den Fugen gerät – erzählt aus der Perspektive des jungen Paul, der sich mit dem Verlust der Mutter und dem emotionalen Entschwinden des Vaters auseinandersetzen muss. Magst du uns ein bisschen über das Projekt erzählen? Wie kam die Idee zu LICHTUNG zu dir und warum wolltest du gerade diese Geschichte als dein Debüt erzählen?
Antonia Kühn: In "Lichtung" habe ich zu ergründen versucht, wie Gedächtnis und Erinnerung in einer Familie funktionieren. Jede Familie geht anders damit um. In der Geschichte ist alles in sich verschachtelt und wird über komplizierte Rekonstruktionen vermittelt. Wie beim Erinnern. Es ist ein mühsamer Prozess. Sie entstand zudem zu einem Zeitpunkt in meinem Leben, als das Trauma eines Autounfalls, der viele Jahre zurücklag, mich wieder einholte. Man wird plötzlich gezwungen, sich mit Dingen zu beschäftigen, die man eigentlich, sehr gut verpackt, in seinem Kopf ganz nach hinten geschoben hat. Von dieser Spurensuche wollte ich erzählen. Die Figuren in meiner Geschichte "kreieren" erneut eine extreme Situation, um sozusagen an den "Ort" des Vergessens zurückkehren zu können. Die Geschwister durchleben die Unfallsituation, etwas abgewandelt, erneut und finden darüber wieder zueinander.
In beiden Büchern taucht übrigens eine Figur auf, die das Geschehen aus dem Verborgenen kommentiert, in "Lichtung" sitzt ein Vogel im Wandschrank, bei "Aufblasbare Eltern" meldet sich ein kleiner Legostein zu Wort.
Dein neues Buch "Aufblasbare Eltern" ist nun viel mehr an deinem eigenen Leben und Erleben angelehnt. Es erzählt von einer Patchwork-Familie und den verschiedenen Hürden des Alltags, die sie meistern muss. Magst du uns auch hier kurz erzählen, wie und warum du diese Geschichte erzählen wolltest?
Antonia Kühn: Dieses Buch schaut auch wieder eine Familie an, die aber ganz lebendig mitten im Leben steht. Es ist eher eine Momentaufnahme, während "Lichtung" sich ja viel in der Rückschau bewegt. Als wir uns neu in der Patchwork-Situation befunden haben, habe ich mich sehr nach Austausch mit anderen Familien gesehnt. Das war gar nicht so einfach. Zum einen möchten viele Eltern nicht darüber sprechen, weil das Thema Trennung immer noch so negativ besetzt ist. Zum anderen haben auch viele Menschen, zumeist die Kinder, keine besonders schönen Erfahrungen damit gemacht. Jede Trennung und darauffolgend neu entstehende Familienkonstellation erzeugt eine komplett eigenständige und immer sehr besondere Situation, je nach Alter und Geschlecht der Kinder. Es treffen Personen aufeinander, die mitunter unfreiwillig und meistens sehr plötzlich in ein ganz neues Familiengefüge geworfen werden. Meine härteste Einsicht war eigentlich, zu akzeptieren, dass man von nun an wirklich keine klassische Familie mehr ist und allen Bemühungen zum Trotz, sich alles und immer wieder aufs Neue zusammenfinden muss. Klar nimmt jedes Familienmitglied irgendwann seinen Platz ein, aber Patchwork-Familien sind in sich viel lockerer und unverbindlicher angelegt. Es lässt sich nichts erzwingen und nichts ist selbstverständlich. Man muss immer wieder neu aufeinander zugehen. Viele Bindungen, die man mühsam geknüpft hat, lösen sich immer und immer wieder. Dafür erlebe ich eine ganz andere Autonomie, vor allem bei den Kindern. In unserem Fall wurden sie viel schneller selbstständig und unabhängig. Das freut mich sehr für sie.
Ich kann nur für die Blase sprechen, in der ich mich bewege und meine persönlichen Erfahrungen teilen. Aber vielleicht hilft es anderen Menschen, die sich in ähnlichen Situationen befinden. Die Patchwork-Familie ist ja auch nur ein Modell von vielen Möglichkeiten, wie man Familie begreifen und leben kann.
Wie empfindest du den medialen Diskurs zum Thema Patchwork-Familien/Trennungskinder? Gibt es Aspekte, die du in dem gesellschaftlichen Umfang mit dem Thema misst? Was wolltest du selbst mit deiner Erzählung ergänzen?
Antonia Kühn: Bei meinen Recherchen zum Buch bin ich darüber gestolpert, wie viele Ehen jährlich wieder getrennt werden. Das hat mich überrascht und ich habe mich daraufhin intensiv mit Familienmodellen beschäftigt. Die bewegen sich alle irgendwo zwischen traditionellen und neuen, viel individuelleren Formen. Das Grundverständnis von Familie verändert sich im Moment stark, gleichzeitig werden in unserer Gesellschaft hierarchische, patriarchale Strukturen aufrechterhalten. Das sogenannte Ernährer-Modell geht immer davon aus, dass ein Elternteil die Betreuung der Kinder übernimmt und der andere Part die finanzielle Versorgung bereitstellt. In der Ehe spielt das sogenannte Ehegattensplitting ein zentrales Instrument, um einen Partner, fast immer die Frau, in der Care-Arbeit zu parken. Dieser Partner steht im Falle einer Trennung völlig mittellos da.
Die Ausgestaltung einer eigenen Familienform basiert auf solidarischen Ideen und braucht sehr viel Idealismus, um das langfristig durchzuhalten. Man muss das wirklich wollen und dafür eine Menge Eigeninitiative aufbringen. Es ist unfassbar, dass Care-Arbeit nach wie vor nicht vergütet oder überhaupt irgendwie vom Staat angerechnet wird. Die familiären Binnenstrukturen können sich nur nachhaltig verändern, wenn die alternativen Familienmodelle auch staatlich unterstützt werden. In meinen Augen ergibt es total Sinn, die Idee des "Dorfes", das bei der Kindererziehung mithilft, viel stärker zu unterstützen und diese große Aufgabe auf mehreren Schultern zu verteilen.
Wie würdest du deine Protagonistin Nora beschreiben? Was verbindet dich alles mit der Figur und wo hast du dramaturgisch Distanz geschaffen zu dir selbst und deinem Leben?
Antonia Kühn: Die Mutter ist die einzige Figur, die ich kaum verändert habe. Es ist ja ein Luxus, eine Figur so gut und in und auswendig zu kennen, da habe ich mich sozusagen voll bedient. Die anderen Figuren sind stark verändert und eher ein gewachsenes Gefüge aus vielen beobachteten, aufgelesenen und neu zusammengefügten Charakteren.
Was waren für dich selbst als Patchwork-Mama die größten Herausforderungen im Alltag und wie hast du diese Situationen in deinem Comic verarbeitet? Welche Ideen von der Familienstruktur hattest du anfangs/nach der Trennung, wie hat sich dein Blick auf diese Art von Familienkonstrukt über die Jahre gewandelt?
Antonia Kühn: Zu Beginn war ich viel euphorischer und dachte, insbesondere nach der Scheidung, dass ich nun viel selbstbestimmter durchs Familienleben schreiten werde. Aber Pustekuchen. Die neue Autonomie bedeutet auch viel mehr Verantwortung. Bei unseren Ausflügen mit dem kleinen Segelboot, das es tatsächlich gibt, hatte ich dann immer das Gefühl, das tut uns total gut, weil man auf so einem Boot wirklich gezwungen ist, als Team/Mannschaft zu funktionieren. Das schweißt zusammen. Andererseits gibt es diese wirklich fiese Szene, wo die Mutter sich in einer Notlage ernsthaft selbst befragt, welches der beiden Kinder sie denn retten würde, wenn sie sich für eins entscheiden müsste. Und sie entscheidet sich natürlich für ihr eigenes Kind. Das ist in der Geschichte sehr zugespitzt, aber im Grunde bleibt man den leiblichen Familienmitgliedern immer am nächsten. Von daher auch die klare optische Einteilung in zwei Katzen- und zwei Fuchsfiguren. Ich finde, wenn man das akzeptiert hat, geht es insgesamt einfacher. Patchworkfamilien sind ein reines Kommen und Gehen, das lässt sich nicht ändern. Wenn dabei tiefere Verbindungen entstehen, ist das etwas sehr Schönes, aber nie selbstverständlich.
Zwischen die einzelnen Episoden, in denen größtenteils Nora und ihr Sohn Milo im Zentrum stehen, packst du hier und da – fast wie Kapitel-Trenner – Gespräche mit dem Familienberater Dr. Schulmann, der Nora und ihren Ex-Partner in Sachen Trennung und Kindererziehung unterstützt.
Antonia Kühn: Diese Sequenzen haben mich besonders begeistert: Sie schaffen neue Kontexte für die bereits gelesenen Szenen/Konflikte und zeigen, wo Theorie, gute Vorsätze und der Alltag auseinanderklaffen können...
Ich habe die Mediation eigentlich immer als hilfreich empfunden. Vor der Paartherapie habe ich auch schon andere Therapieerfahrungen gesammelt und war mir bewusst darüber, dass die Effekte einer Therapie oft erst viel später einsetzen. Das ist insofern gemein, als dass man ja immer erst dort auftaucht, wenn es eigentlich schon richtig pressiert. Unser Therapeut hat uns in der ersten Stunde auch direkt darauf hingewiesen, dass wir viel früher Hilfe benötigt hätten. Aber ich hab das dann irgendwann universeller betrachtet und als generelle Auseinandersetzung mit dem Thema Kommunikation wahrgenommen.
Im Buch stellen diese Kapitel beim Familienberater die "theoretische Ebene" dar. Ein Problem wird besprochen und idealerweise bietet der Therapeut Lösungsansätze an. Mich hat das fasziniert. Wie Formeln. Dabei ist das Leben total unscharf und die Ratschläge gehen oft genau an der Lebensrealität der Familie vorbei. Vielleicht resultiert daraus der tiefe Wunsch meiner Hauptfigur, Klarheit zu schaffen, indem sie ganz viel koordiniert und regelt. Ich glaube, viele Menschen sind mehr oder weniger begabt im Umgang mit ihren Mitmenschen, Partnern, Familienmitgliedern. Es ist total in Ordnung, sich darin ein bisschen Nachhilfe geben zu lassen, wenn man darin eben nicht hochbegabt ist.
In meinem Umfeld erlebe ich auch Partnerschaften und Familien, die von ganz allein wunderbar durchs Familienleben gehen. Das sind aber eher Ausnahmen, und viel zu lange dachte ich, man ist quasi gescheitert, wenn man nicht alles von alleine geregelt bekommt. Es ist aber völlig in Ordnung, sich Hilfe zu suchen oder zu einer Beratung zu gehen. Man kann sich auch im Freundeskreis austauschen, das müsste viel stärker kultiviert werden. Allerdings kostet das auch Überwindung, weil es so privat und persönlich ist.
"Aufblasbare Eltern" hat ein wirklich eindringliches Cover, das vor Farben und Emotionen schier explodiert, und erst auf den zweiten Blick auch negative Empfindungen durch die Figur der Nora spüren lässt. Das Cover bezieht sich auf eine Traumsequenz direkt am Anfang des Buchs – magst du ein bisschen über die Entstehung und die Intention hinter dem Coverdesign erzählen?
Antonia Kühn: Auf dem Cover steht eine Mutter, allein, ohne die Kinder, die sind abgerissen. Sie hatte sie zuvor mit einem Band um ihren Bauch geknüpft und auf Skateboards hinter sich hergezogen. Sie ist völlig aus der Puste, was wiederum auch Bezug zu den titelgebenden "Aufblasbare Eltern" nimmt. Ihr ist die Luft nämlich gehörig ausgegangen. Sie scheitert still inmitten einer bunten und schrillen Kulisse.
Das Leben geht ja weiter und zieht dann an einem vorüber, so wie der Ballon, der sich losgelöst hat und auf der Rückseite des Buches davonfliegt. Und das Schöne ist ja, wenn die Kraft dann wirklich alle ist und man so in sich zusammensackt, laufen die anderen Sachen einfach so weiter. Vieles regelt sich dann auch von allein. Es soll eine schöne, bunte Stille sein. Meine Figur ist so erpicht darauf, alles in ihrem superperfekten Projektmanagement zu regeln. Bis die Schnur eben reißt. Wie eine Nabelschnur. Die Kinder können auch allein Skateboard fahren.