Zwischen-den-Jahren-Interviews VII: Craig Thompson – "Ginsengwurzeln"

Zwischen-den-Jahren-Interviews VII: Craig Thompson – "Ginsengwurzeln"

Craig Thompson im Interview über Charlie Brown, book bannings und Debatten über kulturelle Aneignung, die Ginsengindustrie in den USA und die globale Agrarwirtschaft, über das Straucheln der Graphic Novels und eine lebensrettende Reise durch Europa ...

Lieber Craig, vielen Dank, dass du dir während deiner Lesereise quer durch Europa die Zeit genommen hast, um mit uns im Vorfeld des deutschen "Ginsengwurzeln"-Releases zu plaudern. Ich weiß, dass es unwahrscheinlich ist, aber nur für den Fall, dass es Leser gibt, die dich und deine Arbeit noch nicht kennen – könntest du uns zunächst ein wenig über dich und deine Beziehung zu Comics erzählen? Wann hast du Comics für dich entdeckt und was hat dich an diesem Medium und seinen erzählerischen Möglichkeiten angesprochen?

Craig Thompson: Ich bin in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen. Es gab keine Bücher im Haus, außer der Bibel. Wir gingen nicht in Museen oder ins Kino. Wir hatten nicht einmal einen Fernseher, bis ich älter war. Aber wir bekamen die Zeitung mit den täglichen Schwarzweiß-Comicstrips und die Sonntagszeitung mit einer farbigen Comicseite. Das war meine Einführung in das Medium Comic. Charles Schulz‘ "Peanuts" mit Snoopy und Charlie Brown waren meine erste Liebe. Als ich etwa sechs Jahre alt war, hat mein älterer Cousin einen krakeligen Snoopy für mich gezeichnet, und es hat mich völlig umgehauen, dass Menschen in der Lage waren, einfach zeichnen konnten, was sie vor ihrem geistigen Auge sahen. Der Rest ist Geschichte, haha.

Meinen ersten Comic habe ich in einem Souvenirladen gekauft, als ich im Alter von neun Jahren mit meiner Familie zelten war. Meine Eltern gaben jedem von uns Kindern einen Dollar, den wir für ein Souvenir ausgeben konnten, und mein Bruder und ich kauften uns davon Comics und lasen sie immer wieder in unserem Zelt. Im selben Sommer begann ich auf den Ginsengfeldern der ansässigen Bauern zu arbeiten und bekam dafür einen Dollar die Stunde. Ein Dollar die Stunde bedeutete einen Comic die Stunde – und die Chance, meiner neue Leidenschaft zu frönen und den Traum zu verfolgen, eines Tages Comiczeichner zu sein und nicht als Feldarbeiter zu enden.

Außerdem war meine Familie sehr religiös. Alle Medien, also Musik, Fernsehen und Filme, im Haus waren streng zensiert. Aber Comics blieben unbemerkt, weil sie als Kinderkram angesehen wurden und weil mein Bruder und ich sie mit unserem eigenen Geld bezahlten. Comics waren also das Medium, durch das ich Zugang zur angesagten und fesselnden Unterhaltung meiner Zeit hatte, und deshalb haben sie mich so geprägt!

Wann hat sich für dich herauskristallisiert, dass du in der Comicbranche arbeiten wolltest? Wie hast du den Einstieg in die Branche geschafft und wie schwierig war es für dich, als junger Künstler veröffentlicht zu werden?

Craig Thompson: Meinen letzten richtigen Job hatte ich 1998, im Alter von 23 Jahren, als Grafikdesigner für Dark Horse Comics in Oregon. Davor habe ich als Grafikdesigner für eine Zeitung und eine kleine Werbeagentur gearbeitet, und ich hatte Dutzende von schrecklichen Jobs wie Telefonverkäufer und Lagerist in einem Baumarkt usw.

Die Arbeit bei Dark Horse war mein bester/ schlechtester Job überhaupt. Der beste - weil ich endlich in der Comicbranche meine Brötchen verdiente. Und der schlimmste, weil ich nicht schrieb oder zeichnete, sondern Logos und Spielzeugverpackungen für eine Menge Projekte entwarf, die mich nicht begeisterten.

Damals bekam ich eine Sehnenscheidenentzündung, weil ich ein Jahr lang Vollzeit am Computer arbeitete und dann jeden Abend und jedes Wochenende meine eigenen Comics zeichnete. Das veranlasste mich, den Job zu kündigen, mir Zeit zur Genesung zu nehmen und nach einer Möglichkeit zu suchen, als selbstständiger Illustrator zu überleben. Seitdem bin ich freiberuflich tätig.

Von 1998 bis 2006 habe ich meinen Lebensunterhalt als Illustrator verdient. Aber seit 2006 habe ich das große Glück, allein von Graphic Novels zu leben. Mein Freund und Mentor Joe Sacco sagte einmal, dass es in den USA nur etwa zehn Comiczeichner gibt, die ihren Lebensunterhalt alleine mit literarischen Graphic Novels für Erwachsene bestreiten, und er und ich sind zwei von ihnen.

Wie ich in der Comicbranche Fuß gefasst habe? Ich habe etwa ein Dutzend Mini-Comics gezeichnet, die ich auf Comic-Messen kostenlos an Verleger verteilte. So kam ich mit meinem ersten Verleger in den USA in Kontakt, der damals nur ein Typ in seinem Keller war, der kleine Auflagen veröffentlichte. Aus dieser Ein-Mann-Firma wurde Top Shelf Comics, bei denen mein erster großer Hit "Blankets" erschien. Der Vorschuss für dieses Buch betrug 333 Dollar, und wie ihr euch vorstellen könnt, war ich ausschließlich auf Illustrationsjobs angewiesen, um meine Rechnungen zu bezahlen. 

Im Jahr 2004 bekam ich einen Literaturagenten, der mir meinen ersten Vertrag und einen großen Vorschuss bei einem New Yorker Verlagsbüro verschaffte. Ein paar Jahre später hatte ich mich als Graphic-Novel-Autor so weit etabliert, dass ich alleine davon über die Runden kommen konnte. Aber in der Regel frage ich mich jedes Jahr, wie ich es wieder mal geschafft habe, alle meine Rechnungen und die Steuern davon zu bezahlen ...

Mit der Graphic Novel "Blankets" bist du 2003 weltweit wahrgenommen worden. Der Comic erzählt die Geschichte deiner Kindheit und Jugend im ländlichen Wisconsin - viele der Themen und Motive von "Blankets" werden nun in "Ginsengwurzeln" fortgesetzt. Könntest du uns ein wenig über "Blankets" erzählen und darüber, was dieses Buch für dich bedeutet – und welche Verbindungen es zu deiner neuen Comicerzählung hat?

Craig Thompson: "Blankets" ist bei weitem das Buch, für das ich am besten bekannt bin, ein Memoirenbuch, eine Coming-of-Age-Romanze, eine Geschichte über Familie und Geschwister und den Ausbruch aus dem evangelikalen Glauben meiner Eltern. Im Laufe der Jahre haben mich Leser und Verleger gedrängt, eine Fortsetzung zu "Blankets" zu schreiben, und ich habe mich dagegen gewehrt, weil ich mich mit keinem Projekt wiederholen möchte. Aber als ich mit der Arbeit an "Ginsengwurzeln" begann, das zur Hälfte eine Reportage über das chinesische Heilkraut Ginseng ist, wurde mir klar, dass der für den Leser fesselndste Teil der Geschichte darin besteht, dass ich zehn Jahre meiner Kindheit, im Alter von 10 bis 20 Jahren, damit verbracht habe, im Sommer 40 Stunden pro Woche im Ginsenganbau zu arbeiten. Diese winzige, ländliche Gemeinde in Wisconsin mit 1.200 Einwohnern war in den 1980er Jahren, als ich ein Kind war, der größte Produzent von kultiviertem amerikanischem Ginseng weltweit. Als ich also dieses neue Buch schrieb, kehrte ich zu meiner Kindheit, meiner Familie, meiner Heimatstadt, meiner Autobiografie und meinen komplizierten Gefühlen zu all dem zurück!

Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums von "Blankets" im letzten Jahr – könntest du uns ein wenig über die Comicszene in den USA erzählen, über deine Rolle darin und darüber, wie sich die Branche und die Leserschaft in den letzten 20 Jahren verändert haben? Wie wichtig sind für dich der europäische/internationale Markt und der damit einhergehende Austausch von Ideen und Themen?

Craig Thompson: "Blankets" wurde direkt von der europäischen Comicszene inspiriert, insbesondere von der neuen Welle unabhängiger Comics, die in den späten 90er Jahren vom französischen Autor*innen-Verlag L‘Association veröffentlicht wurden: "Der kleine Christian" von Blutch und "Piero" von Edmond Baudoin – Geschichten über die Kindheit der Autoren und/oder Beziehungen zu kleinen Brüdern, gezeichnet mit einem ausdrucksstarken Pinselstrich. Für das physische Objekt der Graphic Novel habe ich mich von Lewis Trondheim inspirieren lassen, der sich selbst herausforderte, ein 500-seitiges Buch mit dem Titel "Lapinot et les carottes de Patagonie" zu zeichnen. Ich nahm Lewis‘ Herausforderung an, 500 Seiten zu zeichnen, und in den USA war es ein Novum, ein Buch dieses Umfangs zu veröffentlichen, ohne es vorher in Serie zu bringen.

"Blankets" hatte das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort auf dem amerikanischen Verlagsmarkt zu sein, als "Graphic Novels" wirklich ein brandneues Konzept waren. Charles Burns‘ "Black Hole" wurde ein Jahr nach "Blankets" veröffentlicht. Alison Bechdels "un Home" zwei Jahre später. Und plötzlich explodierte dieses neue Format und erweiterte die Reichweite von Comics in Buchläden und Bibliotheken sowie auf neue Zielgruppen.

Heute, zwanzig Jahre später, strauchelt die amerikanische Graphic-Novel-Szene ein wenig. Die allermeisten Graphic Novels, bestimm 90 Prozent, sind für Kinder oder junge Erwachsene bestimmt. Die Inhalte für Erwachsene/literarische Ansprüche sind in der Masse untergegangen oder werden mit "book bannigs" belegt. Ich habe den Eindruck, dass Graphic Novels in Europa viel besser gedeihen als in den USA. Ich fühle, dass die Art von Büchern, die ich machen möchte, hier in Europa viel mehr Unterstützung findet als in den USA. Ich muss gestehen, ich war noch nie besonders patriotisch gesinnt und sehe mich eher als Weltbürger, der in vielerlei Hinsicht in Europa zu Hause ist.

Gleich zu Beginn von "Ginsengwurzeln" gewährst du deinen Leser*innen einen selten düsteren Einblick in deine Beziehung zu Comics, zeigst deine Selbstzweifel und Unsicherheiten und sprichst auch recht offen über vergangene Misserfolge und das nachlassende Interesse an deiner Arbeit. Wie hat deine Arbeit an "Ginsengwurzeln" deine Sicht auf deinen Beruf geprägt – hat sie dir geholfen, die oben genannten Probleme zu überwinden?

Craig Thompson: Graphic Novels werden in den USA zutiefst missverstanden, weil sie wieder einmal nur als Medium für Kinder wahrgenommen werden. Deshalb haben es Moralapostel und selbsternannten Zensoren der christlichen Rechten auf Comics, die auch nur einen Hauch erwachsener Inhalte haben, ganz besonders abgesehen. "Blankets" ist zum Beispiel im gesamten Bundesstaat Utah verboten, einem Staat, der für das Mormonentum und religiösen Konservatismus bekannt ist. Aber auch von links können Comics ins Kreuzfeuer geraten: "Habibi" zum Beispiel zog eine Debatte über kulturelle Aneignung nach sich – dass man nicht über Kulturen schreiben darf, denen man nicht angehört. Diese Angriffe nahmen die Form regelmäßiger Morddrohungen gegen mich an, und meine Bücher wurden aus den Regalen der meisten Buchläden entfernt.

Als die ersten Hefte von "Ginsengwurzeln" in den USA erschienen, haben diese Kampagnen gegen mein Werk, ob von rechts oder links, wieder Fahrt aufgenommen. Jeder Tag schien mit irgendeiner Form von Online-Drohgebärden gegen mich zu beginnen. Das war ganz schön kräftezehrend und verlangsamte die Entstehung des neuen Buchs.

Schließlich gab ich auf Drängen meines Therapeuten das Projekt und die Comics für ein halbes Jahr auf, um zu überlegen, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Während dieser Zeit floh ich tatsächlich nach Europa. Und mir wurde klar, dass "Ginsengwurzeln" unbewusst eine Antwort auf die Kritik der kulturellen Aneignung war. Nicht mit einer Antwort, sondern mit einer Frage: Kann man über den Ort schreiben, an dem sich die eigene Kultur mit einer anderen Kultur überschneidet? Denn das war bei mir und dem Ginseng ganz sicher der Fall. Ich wuchs in einer sehr geschützten und isolierten Gemeinde mit 1.200 Einwohnern auf. Aber die Landwirtschaft dort und die Arbeit, die ich ein Jahrzehnt lang verrichtete, bestand im Anbau von Ginseng, einem Kraut, das in China geschätzt, exportiert und konsumiert wird. Es ist unmöglich, über Ginseng zu sprechen, ohne die chinesische Kultur zu erwähnen, die ihn schätzt.

Wie kam es überhaupt dazu, dass du über Ginseng schreiben wolltest?

Craig Thompson: Anfangs wollte ich ein Sachbuch über Pflanzen machen, inspiriert von den botanischen Forschungsarbeiten von Michael Pollan. Und inspiriert von der Tatsache, dass wir in einer Zeit leben, in der sich die Umweltkrise zuspitzt und die Wahrnehmung des Menschen der Kern des Problems ist. Ich wollte also ein Buch mit einer Pflanze als Protagonistin schreiben, die im Mittelpunkt der Geschichte steht. Aber ich bin kein Wissenschaftler, Botaniker oder Forscher wie Michael Pollan. Und ich habe nicht einmal einen Garten oder einen grünen Daumen. Mit welcher Pflanze kannte ich mich schon aus oder war mir vertraut? Dann erinnerte ich mich daran, dass ich ein Jahrzehnt meiner Kindheit in der Ginsenglandwirtschaft verbracht hatte.

Bei meinen Nachforschungen erfuhr ich, dass der Ginseng am Anfang der entscheidenden Handelsbeziehung zwischen China und den USA stand, noch bevor wir überhaupt als Nation gegründet wurden. Unser erstes Schiff nach China im Jahr 1784, als der Vertrag von Paris ratifiziert wurde, war mit Ginseng beladen, um unsere Schulden bei Frankreich für die Finanzierung der amerikanischen Revolution zu begleichen. Ginseng ist ein sehr natürliches Sprungbrett, um über die Globalisierung zu sprechen, über die Art und Weise, wie sich die Landwirtschaft von nachhaltigen Familienbetrieben zu gigantischen Konzernmonokulturen gewandelt hat, über die Art und Weise, wie der militärische/industrielle/pharmazeutische/landwirtschaftliche Komplex miteinander verbunden ist, über Kinderarbeit, Klassendynamik, Heilung auf pflanzlicher Basis, die Gesundheitsgefahren von Pestiziden usw.

Aber wie ich bereits erwähnt habe, war die Schlüsselkomponente, über meine eigenen Erfahrungen auf den Ginsengfeldern zu sprechen - wie sie meine Kindheit, meine Familie, meine körperliche Gesundheit und meine Zukunft als Comickünstler geprägt haben.

Was ich faszinierend fand - vor allem, nachdem ich das Buch jetzt unter dem Eindruck täglicher Berichterstattung des US-Präsidentschaftswahlkampfs und der tiefen Spaltung der US-Wählerschaft nach neun Jahren Trump-Diskurs gelesen habe - ist, wie du die Farmer in Wisconsin und die Ginsengbranche in Wisconsin porträtierst. All diese bodenständigen Salz-der- Erde-Amerikaner, von denen sicher viele Trump-Wähler sind, die sich von Berufs wegen mit der chinesischen Naturmedizin und der fernöstlichen Kultur und Philosophie beschäftigen... Was treibt diese Menschen an?

Craig Thompson: So wie "Habibi" vom kollektiven Trauma der Terroranschläge vom 11. September beeinflusst wurde, wurde "Ginsengwurzeln" vom kollektiven Trauma der Trump-Wahl 2016 beeinflusst. Drei Staaten waren für diese Wahl ausschlaggebend: Pennsylvania, Michigan und Wisconsin - drei Staaten, die traditionell die Demokraten wählen, in diesem Jahr aber zu den Republikanern wechselten. Wisconsin war einst der fortschrittlichste Staat der Nation, der Geburtsort der sozialen Sicherheit und der Wohlfahrt, des Earth Day und großer Umweltschützer wie John Muir. Ein Staat, der von Gewerkschaftsmitgliedern - und Gewerkschaften wählen traditionell eher links - und Landwirten bewohnt wird, die als selbständige Freiberufler gegen die Kontrolle der Unternehmen kämpfen. Warum also sollten sie sich auf die Seite eines Kandidaten stellen, der gegen alles zu sein scheint, woran sie glauben? Weil staatlich subventionierte Konzerne die bäuerliche Familienwirtschaft zerstört haben. Weil Arbeitsplätze in Fabriken und im verarbeitenden Gewerbe nach Übersee verlagert werden. Weil die "kulturelle Elite" der Ost- und Westküste, Stadtbewohner mit viel mehr Geld und Bildung, versucht, ihr Leben zu kontrollieren.

Das Thema Landwirtschaft steht bei vielen wichtigen geopolitischen Themen unserer Zeit an vorderster Front: Klimawandel, Überbevölkerung/Hunger (und dadurch Massenmigration), wirtschaftliche Verflechtungen zwischen den USA, China und dem Rest der Welt, geistige Rechte/ Gentechnik und und und ... Wie beispielhaft ist die Ginsengindustrie in Wisconsin für die größeren Herausforderungen und Probleme der globalen Agrarthemen? Was hast du bei deinen Recherchen für das Buch über dieses Thema gelernt?

Craig Thompson: Eines der ersten Dinge, die ich während der Arbeit an meinem Buch gelernt habe, ist auch gleichzeitig das offensichtlichste – und es gilt gleichermaßen für Landwirtschaft, Migrationspolitik und das Thema ganzheitliche Gesundheit: Monokulturen sind nicht nachhaltig. Das ist nicht die Art und Weise, wie Pflanzen oder Menschen gedeihen oder gesund sein können. Monokulturen im Ginsenganbau sind offensichtlich problematisch, weil sie zu vielen Krankheiten und Bodenvergiftungen führen, die verhindern, dass die Pflanze jemals wieder auf demselben Stück Land wachsen kann. Fortschrittliche Landwirte verfolgen jedoch einen „wildsimulierten“ Gartenbau, bei dem Ginseng in dieser natürlichen Umgebung, dem Wald, in kleinen Populationen unter dem Blätterdach der Bäume und vor allem in Gemeinschaft mit anderen Pflanzen angebaut wird, die den Ginseng schützen. Alle Systeme brauchen Vielfalt, um zu überleben. Das gilt offensichtlich auch für den Menschen. Es ist dumm, dass wir immer noch mit Grenzen und Abgrenzungen, Nationalismus und Kriegen operieren, wenn wir uns stattdessen auf universelle Verbindungen zwischen uns und anderen Arten konzentrieren sollten. Wenn Landwirte, die sich ihr ganzes Berufsleben lang mit dieser Pflanze beschäftigt haben, das herausgefunden haben, warum können wir dann nicht alle anfangen, dieses Wissen auf den Globalismus anzuwenden?

Das Herz von "Ginsengwurzeln" ist die Beziehung zwischen dir und deinen Geschwistern, deinem Bruder Phil und deiner Schwester Sarah. Kannst du unseren Lesern mehr über sie erzählen und welche Rolle sie in Ihrem Buch spielen?

Craig Thompson: Bevor ich mich ans Schreiben dieses Buches machte, musste ich erstmal meine eigenen Erinnerungen sammeln. Und dann wandte ich mich an meine Geschwister, meine Schwester und meinen Bruder, und fragte sie nach ihren Erinnerungen aus. Mein Bruder war der ursprüngliche Befürworter des Projekts und lieferte viel Stoff für meine Erzählung. Und meine Schwester: Ich muss gestehen, dass ich schon ganz vergessen hatte, dass sie überhaupt jemals auf den Ginsengfeldern gearbeitet hatte. Sie hat es nur ein paar Jahre lang gemacht, weil sie die Arbeit so sehr hasste, dass sie sich stattdessen als Babysitterin verdingte. Ich erinnere mich nur daran, dass ich Seite an Seite mit meinem Bruder gearbeitet habe. Meine Erinnerungen waren furchtbar unvollständig. Schließlich erfuhr ich, dass meine Schwester das beste Erinnerungsvermögen in meiner Familie hatte. Ich begann also damit, mich mit den Problemen zu befassen, die der Autobiografie innewohnen. Erinnerungen sind subjektiv. Jedes Mitglied meiner fünfköpfigen Familie erinnert sich anders an ein und dasselbe Erlebnis. Und das Schreiben, selbst von Memoiren, erfordert eine Menge Bearbeitung. Leser*innen fragen mich immer, ob in "Blankets" alles wahr ist. Das stimmt natürlich. Aber die Fiktion liegt in den Details, die ich weggelassen habe, und die größte Auslassung in diesem Buch war die Tatsache, dass ich eine Schwester habe, die nicht da ist. Das, und viele andere Probleme mit BLANKETS, werden in "Ginsengwurzeln" geändert. Ich dachte, dass es bei diesem Projekt um meine Beziehung zu meinem Bruder gehen würde, aber stattdessen bin ich meiner Schwester, die jetzt eine meiner besten Freundinnen ist, viel näher gekommen. Vielleicht hat diese Vertrautheit damit begonnen, dass ich ihre Auslassung in "Blankets" korrigiert habe.

Und wie hat sich "Ginsengwurzeln" auf dein Verhältnis zu deinen Eltern ausgewirkt? Schließlich kommen sie ja in "Blankets" nicht so gut weg ...

Craig Thompson: Ich hatte gut vier Jahre an "Blankets" gearbeitet und in dieser Zeit meine Eltern nie über das Projekt informiert. Ich fürchtete, wenn sie wüssten, woran ich arbeitete, würde ihre Missbilligung meine Kreativität einschränken. Es war eine Art "Coming-out"... Das Zeichnen einer Graphic Novel war das einzige Kommunikationsmittel, das ich hatte, um meinen Eltern mitzuteilen, dass ich nicht an denselben christlichen Fundamentalismus glaubte wie sie. Als "Blankets" veröffentlicht wurde, waren meine Eltern verärgert, und das führte zu einem Zerwürfnis, das mindestens fünf Jahre andauerte. Aber jetzt, zwanzig Jahre später, haben sie das Buch akzeptiert, und damit auch einen Teil von mir.

Bei "Ginsengwurzeln" habe ich darauf geachtet, meine Eltern und Geschwister in den Prozess einzubeziehen. Jeder Dialog in den Sprechblasen wurde aufgenommen, transkribiert und von den Personen, die ich interviewt habe, genehmigt. Es gab Momente, in denen es meinen Eltern unangenehm war, wie sehr sich "Ginsengwurzeln" auf unsere Familie und unsere persönliche Geschichte konzentrierte, aber letztendlich gaben sie mir die Erlaubnis, die Geschichte so zu gestalten, wie ich sie erzählen wollte.

Ich vermute, dass das Thema Kinderarbeit dasjenige ist, das in den Interviews zu deinem Buch am meisten diskutiert werden wird. Wie hast du dich diesem Thema angenähert, was wolltest du deinen Leser*innen über diesen Aspekt Ihrer Kindheit vermitteln?

Craig Thompson: In den 1940er Jahren wurden in den USA Gesetze zur Kinderarbeit erlassen, um zu verhindern, dass Kinder endlose Stunden in Fabriken unter gefährlichen Arbeitsbedingungen arbeiten. Es wurde jedoch eine Ausnahme für die Arbeit in der Landwirtschaft eingeführt, weil es damals so viele Familienbetriebe und Familien gab, die auf die Mithilfe ihrer Kinder bei der Arbeit auf dem Hof angewiesen waren. Diese Gesetze haben sich nicht geändert. Aber die Familienbetriebe sind verschwunden, ebenso wie die Weißen, die bereit sind, schwere landwirtschaftliche Arbeiten zu verrichten. Heutzutage wird gesagt, dass 50 % der in Amerika konsumierten Produkte von Kindern angebaut/geerntet werden. Nur sind es keine weißen Kinder, die ihren Verdienst für Comics ausgeben. Es sind Kinder von Einwanderern, die die Miete und Rechnungen für Erwachsene bezahlen, um ihren in Not geratenen Eltern und Familien zu helfen.

Ich beschwere mich also nicht über meine eigene Kindheit. Obwohl ich mich manchmal darüber ärgere, dass ich als Kind nicht in den Genuss von Freizeit, Urlaub, Schwimmen und faulen Tagen gekommen bin... Ich habe nichts davon wirklich erlebt, bis ich in meinen 30ern zu eigenem Geld gekommen bin ... Aber als Kind war ich froh, arbeiten zu können, weil ich so über ein Einkommen verfügte, das ich für Dinge ausgeben konnte, die ich wollte und nicht brauchte. Ohne die Arbeit mit Ginseng wäre ich heute kein Comiczeichner.

Du bist derzeit auf einer ausgiebigen Lesereise durch Europa, um die französische, italienische, spanische und deutsche Ausgabe von "Ginsengwurzeln" zu bewerben. Wie wichtig sind Reisen für dich und deine Arbeit?

Craig Thompson: Diese dreimonatige Europatournee könnte buchstäblich lebensrettend sein. Zumindest inspiriert sie mich, weiter Bücher zu machen. Vor zwei Monaten, in den USA, hatte die Comicindustrie mein Selbstvertrauen und meinen kreativen Geist gebrochen. "Ginsengwurzeln" fühlte sich an wie mein letztes Projekt und der Abgesang auf diese schwierige Karriere. Aber sechs Monate in Europa haben mein Selbstvertrauen und meinen Glauben an die Kunst und den kreativen Ausdruck wirklich gestärkt. Endlich, zum ersten Mal seit mindestens fünf Jahren, beginne ich, Ideen für zukünftige Bücher zu entwickeln.

Die Begegnung mit den Lesern, das Hören ihrer Geschichten, das Wiedersehen mit befreundeten europäischen Comickünstler:innen, die Besuche in den Museen – die ständige Anregung gibt mir den nötigen Antrieb, wieder zu Stift und Pinsel zu greifen.

Hast du dann schon ein neues Projekt im Sinn, jetzt, wo "Ginsengwurzeln" fertig ist?

Craig Thompson: Ja. Aber es ist zu früh und zu unausgereift, um darüber zu sprechen. Was ich sagen kann, ist, dass es sich wieder um ein autobiografisches Projekt handelt, das in seiner Gänze auch wieder so um die 600 Seiten umfassen wird ... Aber ich möchte das nächste Buch als Trilogie aufbauen, drei Bücher mit etwa 200 Seiten, damit es nicht wieder acht Jahre dauert, bis ich ein neues Buch fertig habe.