Zwischen-den-Jahren-Interviews III: Lucie Bryon – "Diebin"
Die französische Comiczeichnerin und Illustratorin Lucie Bryon spricht über ihr Comic-Debüt "Diebin", über das Schreiben für und über Teenager und die Bedeutung von positiven, queeren Geschichten.
Liebe Lucie, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, mit uns über dein neues Buch "Diebin" zu sprechen. Da es dein erster in Deutschland veröffentlichter Comic ist, magst du uns erstmal ein wenig über dich erzählen? Wie hast du Comics für dich entdeckt, und wann hast du angefangen zu zeichnen? Was hat dich dazu inspiriert, selbst Comickünstlerin zu werden?
Lucie: Hallo! Ich bin Lucie, und ich bin Comiczeichnerin aus dem Norden Frankreichs. Ich lese Comics, seit ich denken kann, denn alle in meiner Familie lieben Comics. Ich habe aber erst als Teenagerin damit begonnen, meine eigenen zu zeichnen, als ich Manga für mich entdeckt habe. Ich habe immer gerne geschrieben, aber Zeichnen war nicht wirklich mein Ding. Ich liebe zwar franko-belgische Comics, aber als ich die Vielfalt der Geschichten und Kunststile der Manga entdeckt habe, hat mich das wirklich umgehauen und mir die Möglichkeit vor Augen geführt, meine eigenen Comics zu machen. Ich liebte den cartoonhaften Stil. Also schnappte ich mir meinen Bleistift und begann zu zeichnen.
Dein neuer Comic ist eine witzige Feelgood-Romanze über zwei Mädchen, die, wie der Titel schon sagt, einen leichten Hang zum Diebstahl haben. Wie bist du auf die Idee zu dieser Geschichte gekommen? Kannst du uns ein wenig über den Entstehungsprozess berichten?
Lucie: Nachdem ich mit der Kunstschule fertig war, habe ich als Kinderbuchillustratorin gearbeitet, sodass ich Comics nur wenig Zeit widmen konnte. Aber ich wollte sie unbedingt machen! Also begann ich mit der Arbeit an einigen Kurzgeschichten, die machbarer waren als große Graphic Novels. Ich schrieb eine Reihe von Geschichten, die sich alle um Lügen und Geheimnisse drehen. Aus dieser Zeit stammt auch die erste Version von "Diebin". Vor ein paar Jahren kontaktierte mich dann der Verlag Sarbacane, der auf der Suche nach Young-Adult-Geschichten war und fragte mich, ob ich einen Vorschlag habe. Die Idee zu "Diebin" schwirrte mir noch im Kopf herum, also stellte ich eine erweiterte Version vor, und zwei Jahre später war es eine 200-seitige Graphic Novel!
Der Comic zieht die Leser und Leserinnen vor allem durch die detaillierten Persönlichkeiten seiner herzerwärmenden Charaktere in den Bann. Inwieweit stecken deine persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse aus der Zeit als Teenagerin in deinen Charakteren?
Lucie: Obwohl die Geschichte zu 100% Fiktion ist, ist sie natürlich von meinen Jahren als Teenagerin inspiriert. Ich denke, ich habe versucht, mich an die sehr merkwürdigen Gefühle und Denkweisen zu erinnern, die ich in diesem Alter hatte, und ich habe auch viele Leute nach ihren Erfahrungen und Gefühlen aus dieser Zeit gefragt. Ich habe außerdem das Glück eine Schwester zu haben, die beinahe so alt ist wie ich, die aber als Teenagerin ganz andere Erfahrungen gemacht hat. Mir die Teenager Geschichten der anderen anzuhören, hat mir wirklich geholfen, die Charaktere und ihre Interaktionen zu gestalten.
Die Geschichte kommt beinahe vollkommen ohne erwachsene Charaktere aus und spielt ausschließlich in der sozialen Umgebung von Teenagern. Hast du bewusst darauf verzichtet, Erwachsene in deiner Geschichte auftreten zu lassen? Wie wichtig war dir dieser Aspekt?
Lucie: Ja! Dieser Aspekt war beabsichtigt. Ich habe das Gefühl, dass es bei Teenagern eine echte Kluft gibt zwischen dem, wie sie sich selbst sehen, und dem, wie sie von Erwachsenen gesehen werden. Erwachsene sind so weit von den Sorgen der Teenager entfernt. Ihre Welt dreht sich um ihre Freund*innen und Mitschüler*innen. Sie versuchen unabhängig von den Erwachsenen in ihrem Umfeld zu werden. Die Abwesenheit von Erwachsenen in der Geschichte verstärkt diese getrennte Welt noch.
"Diebin" richtet sich an junge Heranwachsende und zeichnet ein gelungenes Bild ihrer Lebenswelt. Wie herausfordernd ist es für dich, Geschichten für diese Altersgruppe zu schreiben? Ist eine andere Herangehensweise nötig als beispielsweise bei Geschichten die sich an Erwachsene richten?
Lucie: Ich glaube, die beiden größten Herausforderungen waren der Umgang mit Smartphones und mit den sozialen Medien. Ich wollte eine Darstellung vermeiden, die wie eine Karikatur wirkt. Lustigerweise lösen sich beide Probleme gemeinsam. Ich habe mir viele Social-Media-Inhalte angesehen, zum Beispiel auf TikTok, um das Verhalten von Teenagern ein wenig auszuspionieren. Ich glaube zwar nicht, dass sie sich so sehr von den Teenagern unterscheiden, die ich früher kannte, aber die Art und Weise, wie sie sich online und im Umgang mit ihren Freund*innen verhalten, ist faszinierend, wenn man sich damit beschäftigt.
Darüber hinaus denke ich, dass sich das Schreiben für Jugendliche und für Erwachsene gar nicht so sehr unterscheidet. Teenager sehnen sich nach erwachsenen Geschichten und Erwachsene waren auch einmal Teenager!
Du erzählst eine queere Liebesgeschichte, die in der Welt von "Diebin" als scheinbar selbstverständlich angenommen wird. In der Realität ist das oftmals leider nicht so. Besonders junge Menschen stoßen häufig auf Ablehnung bezüglich ihrer Sexualität. Wie wichtig ist dir die Akzeptanz queerer Beziehungen in der Gesellschaft?
Lucie: Ich glaube wirklich an die Macht, Dinge mit Kultur zu manifestieren. Wenn du etwas schreibst wie eine queere Beziehung, die ohne Hass existiert, bietest du eine Perspektive. Du machst es möglich. Kunst und Geschichten formen unsere Gesellschaft und unsere Kultur. Oft wird gedacht, dass man die harten Realitäten des Lebens zeigen muss, um große, ernsthafte Kunst zu machen. Ich glaube, dass die Entscheidung über Glück und eine bessere Welt zu schreiben, genauso wichtig und ernsthaft ist.
Du hast Grafikdesign in Orléans studiert und bist Absolventin der ESA St Luc in Brüssel. Wie wichtig war diese Zeit für dein späteres künstlerisches Schaffen? Gibt es Autor*innen oder Künstler*innen, die dich mit ihrer Arbeit inspirieren oder beeinflussen?
Lucie: Ich hatte das große Glück, eine sehr lange Zeit an der Kunstschule verbringen zu können. Ich denke, dass neben dem Wissen und den Erfahrungen, die ich sammeln konnte, vor allem die Zeit zum Experimentieren und Wachsen am wertvollsten war. Ich nutze mein Wissen über Grafikdesign noch immer für Small Press und Zines, und die drei Jahre, in denen ich in Brüssel Comics studiert habe, haben mir sehr geholfen, meine Stimme zu finden und mich als Zeichnerin zu entwickeln.
Was die Künstler betrifft, die mich beeinflussen: Ich liebe die Werke von Pénélope Bagieu und Aude Picault, Michael DeForge, Jen Wang, Ai Yazawa und Chica Umino. Ich liebe Comics aus der ganzen Welt und bin offen für alle Stile.
Dein Comic beschäftigt sich unter anderem mit dem Gefühl, anderen Menschen etwas vormachen zu müssen. Hast du selbst manchmal das Gefühl, nicht du selbst sein zu können? Was würdest du jungen Menschen raten, die auch so empfinden?
Lucie: Beim Schreiben dachte ich daran, wer ich selbst war: Eine unsichere Teenagerin auf der Suche nach sanften queeren Geschichten, die mir Sicherheit geben würden. In vielerlei Hinsicht habe ich versucht, das Buch zu schreiben, nach dem ich damals gesucht habe.
Viele der Seiten kommen mit wenig Text aus und vermitteln dennoch starke Emotionen. Der subtile Einsatz von warmen Farben schafft zudem eine Wohlfühl-Atmosphäre. Kannst du uns ein wenig über deinen visuellen Stil erzählen?
Lucie: Was den visuellen Stil angeht, so wollte ich etwas Zugängliches, aber auch Warmes und Lustiges schaffen. Etwas, dass das Leseerlebnis sowohl für Nicht-Comicleser als auch für große Comicfans interessant macht.
Woran arbeitest du aktuell? Dürfen wir auf weitere Comics aus deiner Feder hoffen?
Lucie: Ich habe gerade eine 80-seitige Geschichte mit dem Titel "Ocean" fertiggestellt, die im Oktober als Teil der ShortBox Comics Fair digital veröffentlicht wurde. Ich liebe Kurzgeschichten, deswegen freue ich mich sehr darauf, weitere zu schreiben und sie zu veröffentlichen. Hoffentlich werde ich noch viele, viele Comics machen.