Zwischen-den-Jahren-Interviews IV: Barbara Yelin –"Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung"

Zwischen-den-Jahren-Interviews IV: Barbara Yelin –"Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung"

Barbara Yelin spricht über das Zeichnen als Sichtbarmachen, über die Stummheit der Mitläufer*innen und das Sprechen als Selbstermächtigung und über die Bedeutung des Erinnerns im Angesicht des anwachsenden Antisemitismus.

Liebe Barbara, "Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung" ist ein Buch über das Sprechen und wie schwierig es im Leben manchmal ist, etwas in Worte zu fassen – vielen Dank also, dass du dir die Zeit für unser Gespräch nimmst. Könntest du eingangs für diejenigen Leser*innen, die dich und dein Werk noch nicht kennen, ein paar Worte über dich und deinen Werdegang verlieren? Wie und wann hast du als Künstlerin und Erzählerin zum Comic gefunden? 

Barbara Yelin: Ich zeichne seit 20 Jahren Comics und Graphic Novels. Ich habe in Hamburg Illustration studiert und bin seitdem begeistert von den Möglichkeiten des Comics. Ich habe ganz verschiedene Formate und Themen gezeichnet, aber die wichtigsten Bücher der letzten zehn Jahre waren Projekte, die sich mit Biografien von Frauen in der Geschichte des NS und Holocaust beschäftigt haben. Ich arbeite gleichzeitig dokumentarisch, künstlerisch und literarisch – mit den vielschichtigen Mitteln des Comics. Mich begeistert die Zeichnung als Möglichkeit des Suchens, Forschens, Sichtbarmachens. Die Themen der Bücher kommen mir oft entgegen, und treffen auf mein Interesse.

2014 ist "Irmina" erschienen, deine viel beachtete und auch international verlegte Comicerzählung über Mitläufertum in Nazideutschland, für die du in Teilen die Lebensgeschichte deiner Großmutter aufgearbeitet hast. "Irmina" war auch die erste Zusammenarbeit mit dem Münchner Historiker Dr. Alexander Korb. Kannst du uns ein bisschen über das Projekt erzählen? 

Barbara Yelin: Ich hatte Dokumente, Tagebücher und Briefe meiner verstorbenen Großmutter gefunden und auf deren Basis einen Comicroman gemacht, der sich dokumentarisch-fiktional auf die Spuren einer eigensinnigen jungen Deutschen macht, die sich zu einer Wegschauerin und Mitläuferin entwickelt. Mich hat interessiert, die aktive Tätigkeit des Wegschauens erzählerisch zu zeigen und Fragen nach der Mitverantwortung, die daraus resultierte, zu öffnen. Es geht auch um die spätere Konfrontation mit der Verstricktheit in die NS-Gesellschaft. Alexander Korb hat mich als Historiker für die akkurate Wiedergabe der Berliner NS-Zeit unterstützt und das wichtige Nachwort geschrieben. Das Buch wurde in mehr als 10 Sprachen übersetzt und hat international viel Beachtung gefunden.

Um ein bisschen vorwegzugreifen – in "Emmie Arbel" gibt es auch eine Figur, die im Alter der Protagonistin von "Irmina" sein könnte, die Großmutter des deutschen Ehemannes von Emmies Tochter Orli, die während der Hochzeit die berüchtigten Worte sagt: „Ich habe es nicht gewusst.“ Die Szene hat mich an die Selbstlügen und die Kultur des Wegsehens und Verdrängens erinnert, die du in IRMINA beschreibst. Aber in "Emmie Arbel" gibt es für diese deutsche Befindlichkeit keinen Platz: „Sie hat gelogen“, sagt Emmie daraufhin und damit ist das Thema im Buch durch. Haben die Gespräche mit Emmie und die Arbeit an dem Buch deinen Blick auf "Irmina" verändert? 

Barbara Yelin: Ja, bei der Figur habe ich natürlich an Irmina gedacht. Emmie hat es mir so im Wortlaut erzählt. Nein, es hat meinen Blick nicht verändert. Die Geschichten hängen miteinander zusammen. Das Wegsehen, die Stummheit und das Mitmachen von so vielen „normalen Deutschen“ wie Irmina hat mit erwirkt, dass so etwas wie der Holocaust geschehen konnte. Und das vielfache Leugnen dieser Verantwortung in der Nachkriegszeit ist Teil der bundesdeutschen Geschichte. Es sind zwei sehr unterschiedliche Ausschnitte von Schicksalen – und sie hängen zusammen.

"Emmie Arbel" ist nicht dein erstes Buchprojekt über eine starke israelische Dame – für "Channa Maron" hast du schon mal in Israel recherchiert und eine israelische Lebensgeschichte aufgearbeitet, inkl. Interviews mit den Angehörigen deiner Protagonistin. Kannst du uns zu dem Projekt noch was erzählen?

Barbara Yelin: Bei der Biografie über die beeindruckende Channa Maron habe ich zum ersten Mal mit Interviews gearbeitet, deren Zitate ich in die Comics mit eingearbeitet habe. Das war ein sehr wichtiges Lernen. Channa Maron und Emmie Arbel verbindet sicher der Mut, zu sich selbst zu stehen und die Stärke, eigene Entscheidungen zu treffen.

2019 hattest du die ersten Gespräche mit Emmie – erzähl uns doch mal, wie es zu dem Unterfangen kam und wie der Kontakt mit Emmie zustande kam. 

Barbara Yelin: Die Begegnung war Teil eines größeren Projekts, das Überlebende des Holocausts in den Dialog mit internationalen Graphic Novelist*innen brachte. Die Begegnung war vom kanadischen Projekt "Narrative Art & Visual Storytelling In Genocide & Human Rights Education" und von Matthias Heyl, dem langjährigen Vertrauten von Emmie, vorgeschlagen worden. Die letzte Generation der Zeitzeug*innen des Holocaust wird nicht mehr allzu lang hier sein. Für uns alle ging es darum, dass die wichtigen Zeugnisse, die Erinnerungen von Emmie Arbel als Überlebende des Holocaust, in einer Form erzählt werden kann, die möglicherweise auch für Menschen lesbar und vermittelbar sind, die Emmie nicht mehr persönlich werden treffen können. In welcher Form können Erinnerungen eines Kindes erzählt werden? Emmie sagt, ihre frühen Erinnerungen sind Bilder. Die Sichtbarmachung der Erinnerung durch Zeichnung war uns ein wichtiges Anliegen.

Wie war das erste Treffen mit Emmie? Was hattest du eingangs für einen Eindruck von ihr? (Was wusstest du über sie und ihre Lebensgeschichte? Was wusstest du über sie als Menschen?) Und wie hat sich euer Verhältnis im Laufe der kommenden Treffen gewandelt?

Barbara Yelin: Wir haben uns zum ersten Mal in der Gedenkstätte Ravensbrück getroffen. Ich hatte einen kurzen Erinnerungsbericht gelesen, der mich sehr berührte, und zwei Kinderfotos von ihr gesehen. Wir mochten uns gleich. Wir hatten aber zusätzlich viel Zeit, uns kennenzulernen und vor allem viel Zeit, in der Emmie mir erzählen konnte, woran sie sich erinnerte. Dem Medium Comic stand sie anfangs durchaus skeptisch gegenüber. Wichtig war für mich, ihr immer den Einblick in den Prozess der Zeichnungen und die Entstehung des Comics zu öffnen. Die Zeichnung selbst wurde zu einem wichtigen Element unseres Dialogs. Wenn ich Gehörtes aufzeichnete, Räume, Szenen und Erinnerungen, konnte Emmie direkt darauf reagieren. Wir waren sehr viel in Kontakt, ich besuchte sie einige Tage in Israel und während der Pandemie haben wir sehr oft gezoomt, bevor ich sie 2022 wieder treffen konnte. Dass nach der ersten kürzeren Geschichte "Aber ich lebe" dieses vorliegende Buch entstand, war eine Entscheidung, die während unserer Gespräche langsam Gestalt annahm. Diese Begegnung und dieses Buch basieren auf diesem sehr vielfältigen Austausch, viel Zeit und vielen Pausen, einem ergebnisoffenen Arbeiten und auf einer starken Basis des gegenseitigen Vertrauens. Für mich ein großes Geschenk, und eine große Erfahrung.

Du zeichnest dich selbst oft in die Geschichte und legst so den Entstehungsprozess des Buchs offen. Du begleitest Emmie, triffst Verwandte, man sieht dich mit Zeichenblock neben ihr, während sie beim Fernsehen entspannt. So fängst du auch flüchtige, berührende Augenblicke des Dokumentationsprozesses ein. Was war der Gedanke hinter diesem erzählerischen Ansatz? 

Barbara Yelin: Es geht dabei natürlich darum, dass Emmie eine starke Frau ist, die im Heute und im Leben steht. Mir war total wichtig, sie nicht auf ihre Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse von Gewalt, Angst und Tod zu reduzieren. Dass die Erinnerung und ihre heutige Gegenwart trotzdem immer wieder ineinander verflochten sind, ist auch Teil dieser Erzählung. Dass ihr Humor, ihre Resilienz und Eigenständigkeit starker Teil dieser Persönlichkeit sind, und dass ihr schönes Zuhause und ihre Familie das Zentrum ihrer Gegenwart ist, ist ein wichtiger Teil dieses Porträts. Und unsere Begegnung wollte ich sichtbar machen, um auch immer die Perspektive der Erzählung offen zu legen. „Erinnerung ist kein Monolog“, das ist ein wichtiges Zitat von Charlotte Schallié, unserer Projektleiterin, die uns enorm warmherzig und unterstützend begleitet hat.

Emmie Arbel ist eine Überlebende im doppelten Sinne. Als Kind hat sie nach den Lagern sexuellen Missbrauch von einem Schutzbefohlenen erlebt, von ihrem Pflegevater, mit dem sie zusammen mit ihren Pflegegeschwistern später nach Israel übersiedelte. Und so wog auch das Schweigen schwerer auf ihr: das lebenslange Schweigen über die Lager und über den Missbrauch. Im Nachwort hast du geschrieben, dass "Emmie Arbel" für dich eine Geschichte über Selbstermächtigung ist. Wie hat Emmie einen Umgang mit dem Sprechen über ihr Leben gefunden? Und was hat dich als Erzählerin an diesem Aspekt interessiert?

Barbara Yelin: Sprachlosigkeit ist eine Folge, ja eine Notwendigkeit, des Traumas. Das, was zu schwer ist, wird eben unaussprechbar. In der Mitte ihres Lebens erlitt Emmie einen Zusammenbruch, auf den sie eine zehnjährige Therapie begann. Erst hier fand sie zum ersten Mal Worte für das Erlebte. Die Vielschichtigkeit ihres Traumas erschwerte das Sprechen darüber zusätzlich und weiterhin. Nach der Therapie hat Emmie begonnen, über ihre Erinnerungen an den Holocaust zu sprechen, erst mit ihren Töchtern, ihren Brüdern, und schließlich auch mit jungen Erwachsenen in Gedenkstätten. Das Sprechen bleibt aber immer schwer, sagt sie. Aber sie will es – weil es ihr das wichtigste Anliegen ist, dass es nie wieder geschehen darf. Und es ist ein Akt der Selbstbehauptung und der Selbstermächtigung – nicht Opfer zu bleiben, sondern zu sprechen. Es ist auch eine Form der Gegenwehr. Emmie erlebte intersektionelle, also mehrfache, Gewalterfahrung, und zwar als Jüdin, als Kind, als Frau. Diese Mehrschichtigkeit erzeugt eine besondere Form der Sprachlosigkeit. Und es ist ein Akt der Selbstermächtigung, dieses Schweigen zu brechen. Das wollte ich unterstützen, ich wollte die Mittel meiner Erzählmöglichkeiten für diese Geschichte zur Verfügung stellen. Die Komplexität dieser Geschichte war schwierig. Aber mich interessierten, wie schon bei meinen vorigen Büchern, auch diese Graustufen, die Brüche, die offenen Fragen, die uns beschäftigen – über das, was die Menschen ausmacht.

Ein anderes wichtiges Thema von "Emmie Arbel" ist das Erinnern. Für Emmie ist die „Farbe der Erinnerung“ schwarz, viele Erinnerungen an ihre Kindheit sind ihr nicht zugänglich, sind da und gleichzeitig nicht. Wie bist du in den Interviewsituationen und wie später beim Zeichnen mit Emmies Erinnerungen umgegangen? 

Barbara Yelin: Erinnerung ist nichts Festes, sie ist etwas Fluides. Nicht immer sind Erinnerungen gleichermaßen abrufbar. Zuweilen haben unsere Gespräche wirklich neue Erinnerungen ermöglicht. Aber ich habe auch die Worte, die Emmie schon seit längerem für Erinnerungen gefunden hat, als sehr stark und akkurat empfunden. Ich habe vor allem zugehört. Habe Fragen gestellt. Ich habe unsere Gespräche aufgenommen, und danach mit den Texten weitergearbeitet. Sehr bald kamen Bilder dazu und ich habe mit den Bild- und Textstücken wie mit einem Puzzle, einer Collage, gearbeitet, habe immer neue Möglichkeiten der Kombination gesucht. Wichtig war mir, auch die Leerstellen der Erinnerung sichtbar zu machen. Innerhalb der Panels und dazwischen, im Text und im Bild. Die Erinnerung eines Kindes ist nicht chronologisch, nicht kontinuierlich. Diese Form wollte ich wiedergeben. Ich glaube, dass das auch eine Chance des Comics ist, dass ich hiermit mehr erzählte, als die Worte allein es können.

Emmie hat zusammen mit ihrem Bruder Menachem und später alleine viele Vorträge an Schulen und Gedenkstätten in Deutschland gehalten. Du warst bei einigen dabei – wie geht Emmie in diesem Kontext mit ihrer Geschichte um? 

Barbara Yelin: Bei ihrem Bruder Menachem saß sie nur neben ihm, für ihn war das wichtig. Aber sie sagte kein Wort. Sie erzählt, dass sie einen Blackout bekam, wenn ihr jemand eine Frage stellte. Später hat sie auch an Schulen gesprochen, aber nicht oft, und da hat das wieder aufgehört. Wir haben zusammen Lesungen der Anthologie gemacht. Emmie las einen eigenen Text vor, aber auch hier möchte sie keine Fragen beantworten. In einem bekannten Umfeld, zusammen mit ihrem Vertrauten Matthias Heyl, dem pädagogischen Leiter der Gedenkstätte Ravensbrück, spricht sie aber mit kleinen Gruppen junger, internationaler Erwachsener.

Emmie gehört zu der allerletzten Generation der Überlebenden, ist eine der letzten Zeitzeug*innen, die vor jungen Menschen über ihre Erfahrungen spricht. Aktuell wird eine Debatte über antisemitische Vorfälle an deutschen Schulen geführt. Hast du das Gefühl, dass wir in den jungen Generationen den Bezug zu unserer Geschichte und Vergangenheit verlieren? 

Barbara Yelin: An Emmies Geschichte wird allzu deutlich, wie nah Geschichte und Gegenwart zusammen liegen. Ich hoffe, dass ihre Geschichte einen Zugang geben kann, um das zu verdeutlichen. Ich glaube, dass die Erzählung einer Person, eines Schicksals, eine nähere Erzählung zur Geschichte schaffen kann, die das sehr gegenwärtig machen kann. Natürlich ist es wahnsinnig wichtig, dass wir diese Geschichte in klarster Erinnerung behalten. Wenn wir uns den Anstieg des Antisemitismus vor Augen führen, bekommt diese Aufgabe eine enorme Bedeutung. Zukunft ist Erinnerung.

Hast du schon ein neues Projekt im Auge? Darfst du uns schon ein bisschen was dazu verraten? 

Barbara Yelin: Ich mache nun eine Pause. Ich brauche etwas Luft und Zeit und kann mich nach diesem sehr eindrücklichen Projekt nicht direkt in ein weiteres Buch stürzen. Ich möchte in Ruhe schauen, was nun als nächstes kommen kann. Der Austausch und die Freundschaft mit Emmie werden dabei bestehen bleiben. Die aktuellen Ereignisse hinterlassen uns in größter Bestürzung.