Zwischen-den-Jahren-Interviews I: Mariko & Jillian Tamaki – "Roaming"

Zwischen-den-Jahren-Interviews I: Mariko & Jillian Tamaki – "Roaming"

Das Jahr 2023 ist beinahe vorbei und es wird Zeit nochmal auf die großartigen Bücher zurückzublicken, die dieses Jahr bei Reprodukt erschienen sind. In interessanten Gesprächen haben uns verschiedene Autor*innen von ihren Werken erzählt und uns einen Einblick in ihr künstlerisches Schaffen ermöglicht. In den nächsten Tagen werden wir hier einige dieser Interviews mit euch teilen.

Den Anfang machen Mariko und Jillian Tamaki. Die beiden haben mit uns über ihren neusten gemeinsamen Comic "Roaming" gesprochen und erzählen uns von ihrer Zusammenarbeit und der Entstehung der Geschichte.

Liebe Jillian, liebe Mariko, vielen Dank, dass ihr mit uns über euren neuen Comic "Roaming" sprecht. Könntet ihr uns eingangs ein wenig über euch erzählen? Wie seid ihr mit dem Medium Comic in Berührung gekommen und wann habt ihr beschlossen, selbst Comics zu machen?

M: Ich war eigentlich kein großer Comic-Fan, bis wir "Skim" veröffentlichten. Ich hatte Alison Bechdels "Dykes to watch out for" gelesen, und ich glaube, jemand gab mir ein Exemplar von Martin und Hewletts "Tank Girl", aber ich war keine begeisterte Leserin. Ich kam zu den Comics, weil meine Freundin Emily Pohl-Weary, die Herausgeberin des Literaturmagazins "Kiss Machine", Comics von neuen Comiczeichnerinnen veröffentlichte. Das war eine unglaubliche Gelegenheit und hat mir die Tür zu diesem Medium geöffnet, wofür ich sehr dankbar bin!

J: Ich habe die Comicseiten in der Zeitung mit Hingabe gelesen. Meine Eltern hatten "Calvin und Hobbes" und "Far Side"-Sammelbände. Und meine Schwester und ich waren beide große Fans von "Archie" und der "MAD"-Magazine. Später, als ich auf dem College war, kam ich mit den Indie-Comics in Berührung, wie Adrian Tomines "Optic Nerve", Dan Clowes, Chris Ware und vielen mehr. Tomer Hanukas Arbeit in "Bipolar" war auch eine große Inspiration für mich, selbst Comics zu machen.

Eurer letztes gemeinsames Projekt "Ein Sommer am See" liegt bereits einige Jahre zurück. Wie kam es dazu, dass ihr euch für die gemeinsame Arbeit an "Roaming" entschieden habt? Könnt ihr uns erzählen, wie die Geschichte entstanden ist?

J: Ich hatte eine Idee für eine Geschichte über drei junge Frauen, die zum ersten Mal als Erwachsene, also ohne ihre Eltern, reisen. Der Schauplatz New York ist fast zufällig - es könnte jede beliebige Stadt sein. Es ist nur so, dass ich eine ähnliche Reise gemacht hatte, als ich 19 war (obwohl die Geschichte nicht autobiografisch ist). Ich entwarf die Figuren und eine Zusammenfassung der ersten beiden Akte. An diesem Punkt wurde mir klar, dass es sich wie ein Buch anfühlte, an dem ich mit Mariko arbeiten würde: Es geht um Freundschaften im Wandel, eine Menge Humor, Wachstumsschmerzen usw. Ich fragte sie dann, ob sie mit mir daran arbeiten wolle, und wir entwickelten die Geschichte und das Manuskript gemeinsam.

Könnt ihr uns einen detaillierten Einblick in eure Zusammenarbeit geben? Wie gelingt euch eine solche gelungene Bild-Text-Komposition? Was sind die Vorteile eurer gemeinsamen Arbeit?

M: Es ist erstaunlich, dass wir so gut zusammenarbeiten, wie wir es tun. Ich denke, das liegt zum großen Teil daran, dass wir uns schon immer als Künstlerinnen geschätzt haben und an der Summe dessen, was wir gemeinsam erreichen können. Bei unserem ersten Buch "Skim" haben wir einen Stil der Zusammenarbeit entwickelt, der viel damit zu tun hatte, dass (vor allem bei mir) ein Mangel an Erfahrung bestand. Ich hatte noch nie einen Comic geschrieben und produzierte daher ein sehr theaterähnliches Skript, das sich auf Bildunterschriften und Dialoge konzentrierte und sehr wenig visuelle Details enthielt. Das hat für Jillian und für unser gemeinsames Schaffen wirklich gut funktioniert. Es war die perfekte Menge an Raum für uns beide, und es setzte einen Standard dafür, wie wir die Dinge jetzt machen.

J: Ich glaube, zwischen uns herrscht ein großes Vertrauen. Vor allem durch unsere frühere Zusammenarbeit, bei der die Arbeit noch ein wenig separater war. Ich glaube, ich komme mit Marikos Schreibstil gut zurecht, weil er sehr offen für Interpretationen ist. Ich habe das Gefühl, dass ich meine eigene Stimme und meine Ideen in die Geschichte einbringen kann. Ich genieße die Zusammenarbeit (mit der richtigen Person!), weil man am Ende ein Werk hat, das man alleine unmöglich hätte schaffen können.

"Roaming" erzählt davon, wie zwei junge Kanadierinnen ihren lange erträumten Trip nach New York wahr werden lassen. Wann habt ihr die Stadt zum ersten Mal besucht? Habt ihr eine ähnliche Begeisterung empfunden, wie eure Charaktere?

M: Ich glaube, ich war zum ersten Mal 2009 dort. Ich erinnere mich, dass ich vollkommen überwältigt war. Ich konnte nicht fassen, wie intensiv jeder Block der Stadt auf mich wirkte, als würde ich Kool-Aid aus Konzentrat trinken. Aber ich habe es geliebt. New York hat immer noch einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen.

J: Ich habe die Stadt zum ersten Mal im Jahr 2000 besucht. Als Teenager habe ich Museen und Kunst sehr verehrt, also war es ein Ort, den ich unbedingt besuchen wollte, ähnlich wie die Figur Dani in der Geschichte. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich eine Kakerlake gesehen habe. Meine Freunde und ich erkundeten ein Stockwerk unseres Hotels, das sich im Bau befand. Wir mussten einen unheimlichen Kerl abschütteln, der uns verfolgte. Wir unterschätzten den Aufwand, den das Laufen mit sich brachte, erheblich. Schließlich lebte ich in meinen 20er und 30er Jahren ein Jahrzehnt lang in New York City, so dass ich die Stadt gut kannte. Aber wie ich schon sagte, könnte diese Geschichte von jeder beliebigen Stadt handeln... es geht darum, dass man von dort, wo man angefangen hat, in eine größere Welt gestoßen wird.

Beim Lesen des Buches hat man das Gefühl, selbst eine Reise nach New York zu machen und sich diese Stadt mit eigenen Augen anzusehen. Wie schwer war es diese besondere Atmosphäre einzufangen?

J: Dankeschön! Das ist ein großes Kompliment. Ich habe lange in der Stadt gelebt und kenne sie daher gut, aber ich wollte sie wirklich durch die Augen eines Besuchers zeigen. Es hat mich sehr viel Mühe gekostet, die Details richtig darzustellen. Ich konnte die Stadt nicht selbst besuchen, weil ich in Kanada lebe und die Grenzen wegen des Covid-Virus geschlossen waren. Außerdem hat sich die Stadt seit 2009 so stark verändert. Also musste ich eine Menge Fotos im Internet recherchieren.

Eure Geschichte erzählt gekonnt vom Gefühlschaos junger Menschen, von Begeisterung, Freundschaft, einem Flirt und den emotionalen Spannungen, die daraus resultieren. Wie gelingt es euch diese Gefühlswelt von jungen Erwachsenen so authentisch einzufangen?

M: Ich denke, das Wichtigste ist, dass man versucht, spezifisch und nicht authentisch zu sein. Bei Teenagern und dem Schreiben von Teenagern wird viel Wert daraufgelegt, das "Jetzt" einzufangen, wie Teenager sprechen und wofür sie sich gerade begeistern, aber das ändert sich so schnell. Was man immer einfangen kann, ist der Kontext, eine Realität für die Figuren zu schaffen und diese nicht aus den Augen zu verlieren.

Unter dem Vorwand des Jugendschutzes werden in den USA unzählige Bücher mit LGBTQ+ Themen in Schulen verboten. Das ist nichts Neues - auch euer letztes Buch "Ein Sommer am See" wurde vor zehn Jahren aus Bibliotheken verbannt - aber es scheint, dass die Angriffe in den letzten Jahren noch stärker geworden sind. Was denkt ihr über diese Entwicklung? Wie wichtig sind eurer Meinung nach Bücher mit solchen Themen für junge Menschen?

M: Ich halte Bücherverbote für eine sehr alte, schreckliche Sache. Ich denke, dass Bücher, die mehrere Realitäten und Erfahrungen einfangen, für alle Leser wichtig sind.

J: Ich finde das natürlich furchtbar. Meiner Meinung nach ist das Verbot von Büchern einfach eine Taktik, die der rechte Flügel einsetzt, um soziale Kontrolle auszuüben. Heutzutage braucht es nicht viel, um ein Buch zu verbieten.

Habt ihr auch in Zukunft vor an gemeinsamen Comic Projekten zu arbeiten?

M: Wenn sich das richtige Projekt anbietet und wir uns dem gewachsen fühlen? Ja, ich denke schon.

J: Ich stimme zu – wir werden sehen!