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Zwischen-den-Jahren-Interviews II: Noëlle Kröger – "Meute"

Zwischen-den-Jahren-Interviews II: Noëlle Kröger – "Meute"

Hey Noëlle, vielen Dank, dass du dir Zeit nimmst, mit uns über deinen Reprodukt-Erstling "Meute" zu sprechen. Magst du uns zu Beginn ein bisschen über dich und deinen zeichnerischen Werdegang verraten? Wie bist du zur Illustration und zum Comic gekommen? Was hat dich am Comic und seinen narrativen Möglichkeiten besonders interessiert?

Noëlle Kröger: Moin & gerne! Comics haben mich schon immer interessiert, genau wie das Zeichnen, und ich bin glücklicherweise in einem Umfeld aufgewachsen, in dem das ernst genommen wurde. Als ich dann erfahren habe, dass man in Hamburg an der HAW Illustration studieren kann, war die Sache klar – und zum Glück hat’s auch direkt geklappt. So bin ich nach dem Abi in den Bachelor und anschließend Master geschlittert. Anke Feuchtenberger und Sascha Hommer waren dabei die wichtigsten Lehrenden für mich und haben mich immer weiter ermutigt, in den Comicbereich zu gehen. Der war ohnehin von Anfang an meine Passion, aber aufgrund der prekären beruflichen Situation wollte ich mich nicht von vornherein festlegen. Jetzt bin ich aber sehr froh, diesen Weg eingeschlagen zu haben. Bei Comics findet das Zusammenspiel zwischen Text und Bild auf eine Art statt, wie ich sie in der Illustration seltener finde. Das fasziniert mich. Es lässt unglaublich viele Zwischentöne zu. Das ambivalente Dazwischen ist genau das, was ich ausloten möchte mit meinen Arbeiten.

Hast du in deinem künstlerischen Werk – ob in Comic, Illustrationen oder freien Arbeiten – bestimmte Themen und Diskurse, die du verfolgst und die viele Aspekte deines Schaffens verbinden?

Noëlle Kröger: Im Kern interessieren mich vermeintliche Dichotomien. Bislang habe ich mich viel mit Geschlecht auseinander gesetzt, vor allem im Bezug auf Transgeschlechtlichkeit. Dabei ist es mir wichtig, keine Zeigefinger-Position einzunehmen, sondern dem Thema mit seiner Komplexität gerecht zu werden. Aufklärende (Sach-)Comics haben ihren Platz und ihre Wichtigkeit, aber mir geht es um die Grautöne. Ich möchte nicht so tun als gäbe es immer klare Definitionen und Antworten.

Mein erster langer Comic, DAS UNBEHAGEN DES GUTEN MENSCHEN, erzählt ein Theaterstück von Brecht neu. In diesem Theaterstück verkleidet sich die weibliche Hauptfigur aus Not immer wieder als Mann. Das war von Brecht nicht unbedingt so vorgesehen, aber ich habe darin auch eine Freude am Spiel mit Geschlechterrollen gesehen, die ich in den Vordergrund holen wollte. Die Arbeit an dem Buch hat mir geholfen, mich als nichtbinär zu outen. Bei "Meute" habe ich mich dann gefragt – gut, du bist trans*, aber was bedeutet das? Wo ist dein Platz in der Welt? Wer sind deine trans* Vorfahren? Auch wenn "Meute" fiktiv ist war die Arbeit daran zutiefst persönlich.

Fast zeitgleich mit "Meute" ist ein weiterer Comic von dir erschienen, über den Dichter William Blake – als Teil einer Ausstellung in der Kunsthalle Hamburg, die dieser Tage zu Ende geht. Könntest du uns ein bisschen zu dem Projekt erzählen? Was hat dich an Blake als Gegenstand gereizt und wie hast du dich dem Thema genähert?

Noëlle Kröger: William Blake war auch jemand, der sich an angeblichen Dichotomien abgearbeitet hat – vor allem Gott vs. Teufel, Gut vs. Böse, Chaos vs. Ordnung. Also sehr religiöse Themen, was zuerst sehr befremdlich für mich war. Blake hatte außerdem sein Leben lang Visionen von Engeln und war wohl kein einfacher Zeitgenosse. Aber trotz all dieser Differenzen haben seine Bilder sehr zu mir gesprochen, sie haben etwas Zeitloses und sehr Liebevolles. Letztlich war dann die Beziehung zu seiner Frau Catherine das, was mir Zugang zu ihm gegeben hat. Deren Zusammenarbeit war dann der rote Faden meiner Blake-Biographie. Ein weiterer Schlüsselmoment war ein Satz aus Peter Ackroyds Biographie über Blake: „He had [...] compared death to ‚a removing from one room to another’.” Das hat mich sofort an Panel erinnert, die Räume als Panel und Gutter (der Abstand zwischen den Paneln). Das hat mir einen Grund gegeben, damit etwas zu experimentieren.

"Meute" ist nicht deine erste Werwolf-Erzählung - vor zwei Jahren hast du schon den kurzen Band “Was bedeutet mir der Werwolf?” im Hamburger MamiVerlag veröffentlicht. Magst du uns die Frage gleich beantworten? Was bedeutet dir der Werwolf?

Der Werwolf kann so viel sein – meist ist er in Geschichten in der ein oder anderen Form die Personifizierung eines unterdrückten Gefühls. Mein unterdrücktes Gefühl war meine Transgeschlechtlichkeit.

"Meute" ist eine ganz besondere Werwolfs-Erzählung. Die Horrorelemente, derer sich der Stoff sonst bedient, sind hier kaum vorhanden bzw. gehen hier eher vom Menschen als vom Werwolf aus. Welche Idee(n) liegen der Erzählung zu Grunde? Warum wolltest du diesen Stoff unbedingt erzählen?

Noëlle Kröger: Beim Werwolf gibt es diese typischen narrativen Muster, die mich an eine andere typische Narration erinnert haben: nämlich an Mainstream-Geschichten über Transgeschlechtlichkeit. Die Hauptfigur ist die einzige trans* Person, sie lebt vereinzelt, ihr trans*-sein hat sie einsam gemacht. Die Geschichte dreht sich um die Transition, es gibt viele Vorher- und Nachher-Bilder. Es wird viel auf das „Warum“ eingegangen. „Warum ist diese Figur so und leider, leider nicht normal?“ Oft stirbt sie am Ende und die Norm kann wiederhergestellt werden.

Was mich daran immer gestört hat, ist vor allem die Vereinzelung, denn sie entspricht selten der Realität. Wir finden unsere Rudel, warum sollte es beim Werwolf anders sein? Deshalb war von Anfang an klar, dass ich eine Gemeinschaft erzählen wollte, die in sich auch widersprüchlich sein darf. So fing alles an und der Rest hat sich immer weiter ergeben. Wenn ich bei meinen Werwölfen nicht weiter wusste, habe ich immer versucht auf historische und meine eigenen Erfahrungen zurück zu greifen.

Im Zentrum deiner Erzählung steht die Naturforscherin Margot, die als Nachwuchswissenschaftlerin in einer kleinen französischen Stadt als Teil eines Instituts an der Erforschung eines gefangenen Werwolfs teilnehmen darf bzw. nicht darf – weil sie die männlichen Kollegen nicht für voll nehmen. Erzähl uns doch ein bisschen mehr über Margot. Was war dir an ihrer Darstellung wichtig, vor allem im Kontrast zu den männlichen Akademikern?

Noëlle Kröger: Margot war für mich eine unglaublich spannende Figur. Sie leidet klar an dem Sexismus und der Arroganz der Professoren, schafft es aber niemals vollständig, ihre eigene Arroganz gegenüber den Werwölfen abzulegen. Selbst marginalisiert zu sein schützt sie nicht davor, andere zu marginalisieren. Dadurch ist sie keine typische Heldin. Sie meint es gut, aber macht (vielleicht?) das Falsche oder zumindest zu wenig zu spät. Die Balance zwischen Sympathie mit ihr und der Sympathie mit den Werwölfen war mir sehr wichtig, denn Margot zu begleiten ist manchmal frustrierend. Ich glaube aber, dass dieser Frust produktiv sein kann. Er bringt Le- sende dazu, sich zu fragen was Margot anders machen sollte und vielleicht lässt sich manches davon auf die Realität übertragen.

Im Kern geht es in "Meute" um das Thema Körperlichkeit – um die Auflösung von starren Vorstellungen von Körper und Identität. Auch wenn "Meute" keine klassische Horrorerzählung ist, lebt sie ja von kollektiven Bildern und Vorstellungen aus zahlreichen anderen Horror-Erzählungen über Transformationen, Mutationen und andere Schrecken, die im Körper innewohnen. Warum eignen sich vor allem das Gruselgenre (zu dem Werwolfsgeschichten ja seit der Antike dazugehören) besonders, um über Körperthemen wie trans*-Identität zu sprechen?

Noëlle Kröger: Geschlecht wird nicht nur über Körper, sondern vor allem über Bilder von Körpern gefestigt. Das gilt für uns alle, egal ob trans* oder nicht. Ich finde dem wohnt ein ganz eigener Horror inne. Horror ist sehr gut darin, solche Abhängigkeiten und tief verwurzelten Ideen ans Tageslicht zu holen, indem es uns mit allem konfrontiert, was sich nicht einordnen lässt und damit die Norm entlarvt. Man kann die Selbstidentifizierung von Minderheiten mit dem Monströsen merkwürdig finden, aber ich empfinde das Monströse, das Dazwischen, das Abjekte nicht als abstoßend. Ich finde, dem wohnt eine Macht inne. Ich glaube, mithilfe des Monsters können wir, also trans* und cis-Menschen, durchaus lernen, dass es kein „Wir vs. die Anderen“ gibt; alle sind sehr viel näher am vermeintlich Anderen dran, als sie gerne hätten. Außerdem sind Monster „my favourite thing“.

"Meute erzählt auch von Ausgrenzung und Verfolgung, von irrationaler Angst und der rationalen Instrumentalisierung von Ängsten. Was war dir in der Aufbereitung dieser Thematiken wichtig?

Noëlle Kröger: Mir war besonders wichtig, meine Lesenden Ernst zu nehmen. Ich wollte über die Geschichte Dynamiken offen legen, aber nicht vorgeben, was für Schlüsse daraus gezogen werden sollen. Deshalb wird Transgeschlechtlichkeit auch mit keinem Wort erwähnt. Ich habe Vertrauen darin, dass klar wird, worum es mir geht. 

Anfang Oktober findet wieder das Comicfestival Hamburg statt, an dem du auch schon seit Jahren beteiligt bist (stimmt doch, oder?). Dabei wird auch "Meute" als Teil einer Ausstellung mit den Arbeiten von Hamburger Debütant*innen zu sehen sein. Wie wichtig sind das Festival und die darüber stattfindende Vernetzung der Comicszene in HH für dich und deine Arbeit? Welche Bedeutung hat das Festival für die deutschsprachige Comickunst?

Noëlle Kröger: Das Festival ist seit Jahren ein konstanter Bezugspunkt für mich. 2018 war ich im Rahmen eines HAW-Kurses bei Sascha Hommer das erste Mal dabei. DAS UNBEHAGEN DES GUTEN MENSCHEN, mein erstes Buch im Selbstverlag, wurde über Umwege durch Kontakte, die ich beim Comicfestival geknüpft habe, beim amerikanischen Verlag Fieldmouse Press verlegt. Das war ein wichtiger Durchbruch für mich, genau wie jetzt die Veröffentlichung von "Meute". Da ist es nur passend, dass die Release-Veranstaltung beim Comicfestival Hamburg stattfindet. Ich empfinde den Zusammenhalt der Hamburger Comicszene ohnehin als sehr wichtig. Ich bin auch Teil des Comic Geheimclubs, einer Arbeitsgruppe, die sich regelmäßig trifft. Deren Feedback hat "Meute" auch stark geprägt.

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Zwischen-den-Jahren-Interviews I: Judith Vanistendael – "Atan von den Kykladen"

Zwischen-den-Jahren-Interviews I: Judith Vanistendael – "Atan von den Kykladen"

Das Jahr 2024 ist beinahe vorbei und es wird Zeit nochmal auf die großartigen Bücher zurückzublicken, die dieses Jahr bei Reprodukt erschienen sind. In interessanten Gesprächen haben uns verschiedene Autor*innen von ihren Werken erzählt und uns einen Einblick in ihr künstlerisches Schaffen ermöglicht. In den nächsten Tagen werden wir hier einige dieser Interviews mit euch teilen.

Den Anfang macht Judith Vanistendael. Sie spricht in unserem Interview über ihre Zusammenarbeit mit dem Louvre, über die Identität der Schöpfer in der Kunst, über die alltägliche Kreativität, Schreibblockaden, Inselhüpfen, Klimawandel und schräge Kekse Backen ...

Liebe Judith, vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Gespräch nimmst. "Atan von den Kykladen" ist nicht dein erstes Buch, das bei Reprodukt erscheint. Schon dein Comic-Debüt "Kafka für Afrikaner" fand international großes Interesse und wurde 2008 und 2009 für den Grand Prix des Festival International de la Bande Dessinée d’Angoulême vorgeschlagen. Es folgten weitere Veröffentlichungen, darunter der Comic "Als David seine Stimme verlor" mit dem du für den renommierten Eisner Award nominiert warst. Magst du uns eingangs erzählen, wie deine Karriere als Comickünstlerin begonnen und sich über die Jahre entwickelt hat?

Judith Vanistendael: Ich habe einen ungewöhnlichen Weg genommen. Ich hatte nie vor, Comics zu machen. Ich habe etwas anderes studiert und habe einen Master in Kunst- geschichte gemacht. Nach diesem Studium habe ich mehrere Jobs gemacht und war wirklich sehr schlecht in diesen. Eigentlich bin ich in vielen Dingen wirklich schlecht, ich habe nur ein paar Talente (und ich hoffe, dass Comics machen eines davon ist). Mein damaliger Freund machte sich Sorgen um mich und riet mir, an der Kunsthochschule nebenan Comics zu studieren: Luca School of Arts. Er dach- te, das würde mich glücklich machen. Ich glaube, er hatte Recht, obwohl ich anfangs wirklich nicht verstand, was ich dort tat. Ich war überhaupt kein Comic-Fanatiker. Das bin ich immer noch nicht. Ich mag es mehr, Comics zu machen als sie zu lesen, aber Pssst, erzählt‘s keinem.

"Atan von den Kykladen" ist im Rahmen einer gemeinsamen Reihe des französischen Verlags Futuropolis und dem Musée du Louvre erschienen, in der seit 2005 Ausstellungsstücke des Louvre in Comics thematisiert werden. Renommierte Comiczeichner*innen, darunter beispielsweise Marc-Antoine Mathieu, Taiyo Matsumoto, Nicolas de Crécy und viele weitere haben sich bereits in einem Comicband mit dem berühmten Museum auseinandergesetzt. Wie kam es dazu, dass auch du einen Comic zu dieser Reihe beigesteuert hast?

Judith Vanistendael: Ich bekam einen Anruf von Sébastien Gnaedig, dem Herausgeber von Futuropolis, der die Comics zusammen mit dem Louvre veröffentlicht. Er sagte, er wolle mit mir zusammenarbeiten. Später fragte ich Fabrice Douar, dem Verleger beim Louvre, warum sie sich eine Zusammenarbeit mit mir wünschten, denn ich fühlte mich von all diesen großen Namen wirklich eingeschüchtert. Und er zeigte mir sein Bücherregal mit seinen Lieblingscomics, und da standen meine Bücher drin. Er sagte, dass er meine Arbeit wirklich sehr mag und dass es der einzige Grund sei, warum er möchte, dass ich ein Buch mit ihm mache. Er arbeitet nur mit Autoren zusammen, deren Werke ihm gefallen, ob berühmt oder nicht, das ist ihm egal: Entweder es gefällt ihm, oder nicht. Er ist ein besonderer Mann, sehr unabhängig in seiner Sicht der Dinge. Und er trinkt gerne Bier im Garten des Louvre.

Wie bist du auf die Kykladenkultur aufmerksam geworden? Stand von Beginn an fest, dass der Comic sich mit dieser künstlerischen Epoche befassen würde?

Judith Vanistendael: Ich konnte das Museum nicht besuchen, weil es in dieser Zeit wegen des Lockdowns geschlossen war, also musste ich auf ihrer Website nachsehen, und dort fand ich die Skulpturen. Aber zuerst hatte ich viele, viele andere Ideen, die alle schlecht waren. Fabrice und Sébastien waren nicht überzeugt, bis ich diese Skulpturen als Thema vorschlug.

Ich finde die Skulpturen zutiefst faszinierend, weil sie so standardisiert sind: sie sehen alle gleich aus, die Hand des Bildhauers ist kaum sichtbar. Und ich finde sie letztlich schön anzusehen. Als Lehrerin war ich fasziniert, ich habe meinen Studierenden immer gesagt, sie sollten ihre eigene Stimme finden: Individualismus ist in der westlichen Gesellschaft wichtig. Aber es ist auch möglich fantastische Kunst zu machen, ohne dass die Identität des Schöpfers sichtbar ist. Seit ich dieses Buch gemacht habe, habe ich aufgehört, meinen Studierenden zu sagen, sie sollen ihre eigene Stimme finden. Ich bin nicht mehr so überzeugt von der individuellen Ader.

Über die „Kykladenidole“, wie die Statuen aus dieser Zeit genannt werden, ist wenig bekannt. Über ihren Verwendungszweck gibt es vor allem Hypothesen. Wie tief bist du für dieses Projekt in die Recherche gegangen? Kannst du uns ein bisschen in den Entstehungsprozess mitnehmen?

Judith Vanistendael: Diese Kultur wurde im 19. Jahrhundert wiederentdeckt: Zunächst fand man die Skulpturen hässlich, später im 20. Jahrhundert wurden sie zu wertvollen Kunstobjekten, die in teuren Kunstgalerien verkauft wurden. Die Menschen aus den Kykladen gruben sie auf ihren Feldern aus und verkauften sie, um Geld zu verdienen. Man kann es ihnen nicht verdenken, sie waren arm und konnten das Geld gut gebrauchen. Aber auf diese Weise ging eine Menge archäologischer Kontext verloren. Erst viel später wurde mit der archäologischen Forschung begonnen, und in den 80er Jahren und später erhielten wir mehr Informationen über die Kykladenkultur: Sie war nicht griechisch, sie war eine Bronzekultur ohne Schrift und ohne richtige Städte. Inselhüpfen, Schifffahrt, Bauern und Fischer, wenig Schichtung oder Ungleichheit, wenn ich das richtig sehe. Und sie haben viel Kunst gemacht, weiße Marmorskulpturen, auch

Vasen aus Marmor und vieles mehr. Wir wissen nicht, welchen Zweck sie hatten, aber wir wissen, dass sie bemalt waren, mit Blau, Schwarz, Rot und manchmal anderen Farben. Ich habe versucht, so viel wie möglich zu lesen, denn ich bin Kunsthistorikerin, und das war genau mein Ding. Die größte Herausforderung bestand darin, herauszufinden, wofür ich die Skulpturen verwenden wollte, und auch darin, ihre Kultur zum Leben zu erwecken: Was haben die Menschen gegessen, wie sahen die Häuser aus, wie sah ein Rucksack aus, ein Ofen, hatten sie Eimer oder Stühle? Hatten sie Wein?

Da wir so wenig wissen, konnte ich meiner Fantasie freien Lauf lassen. Und ich habe Fehler gemacht, ich habe nicht genug Tiere um die Häuser herum gezeichnet, und ich habe Atan einen Hund gegeben, aber jemand hat mir gesagt, dass sie diese Hunderasse nicht hatten. (Ich habe eine minoische Hunderasse genommen, aber die Minoer lebten VIEL später, also gut...). Ich denke, das Buch ist voller Fehler. Seit diesem Buch habe ich großen Respekt vor den Machern von historischen Comics. Es ist wirklich schwierig, eine ganze Welt zu erahnen, wenn man sie nicht kennt.

Da nur wenig über die soziokulturellen Bedingungen und die Menschen dieser Zeit geklärt ist, stellt sich die Frage, wie du an die Entwicklung der Figuren, insbesondere des Protagonisten Atan, herangegangen bist. Gab es wissenschaftliche Erkenntnisse, auf die du dich dabei stützen konntest?

Judith Vanistendael: Wir wissen nichts über diese Menschen und wer sie waren, wie sie sich fühlten.. also habe ich es erfunden. Atan ist mein Sohn: So einfach ist das. Er entdeckte während des Lockdowns, dass er gerne Skulpturen macht, und es war eine wahre Explosion der Kreativität. Er konnte einfach nicht aufhören zu modellieren und zu modellieren, sein Zimmer ist voll von kleinen Figuren. Also habe ich seine Geschichte, seinen Charakter und seine Erfahrungen mit meinen Erfahrungen als Lehrerin kombiniert und ihn in die kykladische Epoche versetzt. Die ganze Idee war, es so normal wie möglich aussehen zu lassen. Atan trägt also ein vorgriechisches Kleid und hat griechische Sandalen, aber ich hoffe, dass er darin herumläuft, als ob es ganz normal wäre. Ich wollte Normalität in der Vergangenheit. Keine Epen, kein Heldentum, sondern normale Menschen wie du und ich, die sich in einer völlig anderen Kultur mit dem Kunsthandwerk beschäftigen. Die Kleidung, die die Menschen tragen, basiert auf dem historischen Wissen über die Kleidung von vor 5000 Jahren, und sie trugen keine Hosen, sondern Sandalen und Stiefel. Stricken war noch nicht bekannt, aber die Ägypter hatten Strohhüte und so weiter... die Haare der Mädchen basieren auf den Malereien auf den Skulpturen.

Wie auch immer: Ich denke, dass jede Geschichte über die Vergangenheit ein Spiegelbild von uns heute ist. Genauso wie jede Geschichte über die Zukunft von der Gegenwart handelt. Weil wir nicht wissen können, wie es war oder wie es sein wird, erfinden wir die Vergangenheit und die Zukunft.

"Atan von den Kykladen" thematisiert auch die Einschränkung von Atans Kreativität, um Geschicklichkeit und Technik zu erlernen und wie er sich schließlich doch künstlerisch entfalten kann. Wie wichtig ist dir dieser Aspekt der Geschichte?

Das ist der Kern der Geschichte. Ich habe diese Geschichte auch als eine Möglichkeit gesehen darüber nachzudenken, was es bedeutet, Kunst zu machen. Eine Art Essay über den Kunstunterricht. Warum sagen wir immer, dass man in seiner Kunst seine Persönlichkeit entwickeln soll? Warum haben wir diese Obsession mit Originalität oder mit „Meisterwerken“? Atan muss seine Kreativität zurückhalten, denn die Skulpturen sind für alle da, jeder muss sich in den Figuren wiedererkennen. Aber Atan hat eine gewisse kreative Kraft in sich, die mit dieser Vision kämpft.

Ich selbst bin immer tief bewegt von gut gemachten Objekten, bei denen man die Meisterschaft und das Können des Machers sieht, Technik ist meiner Meinung nach immer schön zu beherrschen. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass jeder „Kunst“ machen sollte, singen, zeichnen, schauspielern, Geschichten erzählen... wir tun das in unserer Gesellschaft zu wenig und überlassen es den Ausgebildeten. All das fasziniert mich. Warum sagen wir, ich kann nicht zeichnen, ich kann nicht singen? Wer hat uns das gesagt? Ich mag also beides: die alltägliche Kreativität, z.B. das Backen von schrägen Keksen, und das andere Extrem: Die Beherrschung durch Training. Es ist gut, dass es beides gibt.

Kannst du uns noch etwas über die Zusammenarbeit mit dem Musée du Louvre erzählen? Was hat dich an dem Konzept einer Comicreihe über die Kunst im Louvre besonders fasziniert oder begeistert? Wie frei warst du in der Ausarbeitung deiner Geschichte?

Judith Vanistendael: Ich erhielt den Anruf eine Woche, nachdem ein anderes großes Projekt wegen COVID abgesagt worden war. Ich hätte nach Norwegen reisen müssen und mein Aufenthalt wurde abgesagt, so dass ich die für meine Geschichte benötigten Informationen nicht sammeln konnte. Ich war ratlos, denn normalerweise habe ich immer nur ein Projekt zur gleichen Zeit. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Dann kam der Anruf, ob ich Zeit hätte, ein Buch fürs Louvre zu machen. Und zum Louvre sagt man nicht Nein. Oder ich sage es nicht. Ich war so beeindruckt und eingeschüchtert von den Namen in der Serie, dass ich monatelang eine Schreibblockade hatte. Ich war sehr, sehr frei in der Entwicklung der Geschichte. Keine Einmischung, nur gute Führung und viel Vertrauen.

Du beschäftigst dich mit vielfältigen Themen: Vom Schicksal illegaler Einwanderer, über die Geschichte eines an Krebs erkrankten Mannes bis hin zum Zwiespalt einer Ärztin zwischen Familie und dem Einsatz im Ausland – stets gelingt dir eine tiefgründige Erzählung. Auch in ATAN widmest du dich wieder einem gänzlich neuen Stoff. Wo findest du die Inspiration zu deinen Geschichten und wie gelingt es dir so tief in verschiedene Themen abzutauchen?

Judith Vanistendael: Inspiration: Sie entsteht einfach, intuitiv. Ich denke, dass ich immer über mögliche Geschichten und Themen nachdenke (wenn ich spazieren gehe oder Fahrrad fahre oder die Wäsche mache) und dann bleibt ein Thema hängen, und allmählich kommen die Charaktere zu der Geschichte dazu und alles klebt zusammen wie ein Haufen sehr klebriges Zeug. Und dann fängt es an, zusammenzugehören, und ich kriege es nicht mehr aus dem Kopf. Mein Mann vermutet, dass ich auf der Autismus-Spektrum-Skala stehe. Das geht einher mit Monofokus. Wenn mich ein Thema interessiert, gehe ich ganz natürlich darauf ein, aber für meine Familie und Freunde kann es störend sein, weil ich sie dann nicht mehr so sehr wahrnehme. Ein Kollege von mir sagte mir, dass ich für jedes Buch einen Doktortitel mache. Deshalb schreibe ich auch nicht viele Bücher.

Natürlich habe ich einige wiederkehrende Themen, von denen ich besessen bin, wie z.B. Mutter/Vater/Kind-Beziehungen, Großeltern, Flüchtlinge und die Rolle der Frau in der Gesellschaft, die mit meinem persönlichen Leben zu tun haben. Im Moment beschäftige ich mich mit dem Klimawandel, dem Verhältnis von Menschen und der Natur und mit neuen Formen des Geschichtenerzählens, um mit diesem Klimawandel umzugehen. Das ist ein neues Thema für mich, und es kommt daher, dass ich Kinder habe: Wie werden sie auf dieser seltsamen und sich verändernden Erde leben?

Wohin wird dich dein nächstes Comicprojekt thematisch führen? Arbeitest du bereits an einer neuen Geschichte?

Judith Vanistendael: Mein nächstes Buch erzählt die Geschichte einer belgischen Flüchtenden im Jahr 2071: Belgien wurde überflutet (ja, Klimawandel und leider nicht unrealistisch) und sie geht nach Norden. Ich erzähle die Geschichte, wie sie versucht, als Flüchtling in einer Stadt oberhalb des Polarkreises zu leben, und ich versuche zu zeigen, wie eine mögliche Zukunft aussehen könnte. Der Arbeitstitel lautet: „Das ist nicht das Ende der Welt“. Es ist eine lustige Ge- schichte über die tragische Tatsache des Klimawandels und die Auswirkungen auf das Leben ganz normaler Menschen. Es ist auch eine hoffnungsvolle Geschichte, hoffe ich. Ich habe Kinder, ich möchte für sie hoffen können.

 

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